Lehnitzer Schulbeginn vor siebzig Jahren

Von Bodo Becker

Das Foto entführt uns in die unmittelbare Nachkriegszeit. Freundlich, erwartungsvoll und auch etwas ängstlich blicken die Kinder in die Kamera. Ihre Kleidung verrät die schwere Not dieser Zeit. Es fehlt an Schuhwerk und es muss auch mal eine viel zu kleine Jacke getragen werden. Im Hintergrund überragt die Lehrerin, es ist Christel Czunczeleit, ihre Schützlinge. Das gerade vor wenigen Monaten fertig gestellte Schulgebäude besitzt noch keine Fassade. Die Klassenräume, das Lehrer- und das Hausmeisterzimmer befinden sich ebenfalls in einen noch unfertigen Zustand. Nur sechs Wochen nach Kriegsende, am 6. Juni 1945, hatte der Unterricht für hundert Schüler in Lehnitz begonnen. Mangelhafte Ernährung und schlechte Lebensumstände führten jedoch Ende Juni zum Ausbruch einer schweren Typhusepidemie, so dass der bescheidene Anfang ein schnelles Ende fand.

Schulklasse Lehnitz 1946 (Archiv Bodo Becker)

Die neue Gemeindeverwaltung, die drei Schulhelfer und das Hausmeister-Ehepaar nutzten die unterrichtsfreie Zeit, um den desolaten Zustand des Gebäudes wenigstens zu lindern und zwei Räume für den Unterricht herzurichten. Man schuf eine Aula, die mit Gartenstühlen des bombengeschädigten Restaurants „Seelöwe” möbliert wurde. Die Gemeindeverwaltung veranlasste die Reparatur der Fenster, setzte Öfen in die benutzten Räume und sorgte für Brennholz. Toiletten in einem Häuschen auf dem Hof wurden eingerichtet. Die kleine Eröffnungsfeier am 5. November konnte die allgemeine Not nur schwer überdecken. Eine Lehnitzer Schulchronik berichtet: „Es fehlte an Heften, Lehrbüchern, Federn und Tinte, Mal- und Zeichenmaterial. Das Brennholz war nass und die Öfen rauchten entsetzlich. Wir nahmen von den zurückgelassenen Akten des ehemaligen Landratsamtes die Aktenbogen, die meist eine freie Seite hatten und hefteten sie zusammen und aus den farbigen Aktendeckeln entstanden die Deckel unserer Hefte, aber auch allerlei Bastelarbeiten für das bevorstehende Weihnachtsfest.

Die Kinder waren sehr eifrig bei diesen Aufbauarbeiten, schleppten diese Aktenhaufen auf den Boden, sortierten die Lehrmittel, holten aus dem Wald Brennholz. Frl. Muchows unverwüstlicher Humor und ihre Singefreudigkeit spornte die Kinder immer wieder an, wenn sie ermüden wollten. Auch auf unserem großen Spielplatz gab es viel Aufbaufreudigkeit der Kinder, sie räumten auf und entfernten die Kriegsüberreste.“ Die Schulhelfer und die Leiterin mussten insgesamt 168 Schülern in sieben Klassenstufen unterrichten. Umschichtig führten sie den Unterricht in zwei Klassenräumen durch. Bei vielen Kindern war der Gesundheitszustand labil, so dass die Gemeindeschwester und ein Arzt regelmäßig Untersuchungen durchführen mussten. Gemeinsam mit der Gemeindeverwaltung war es dem ansässigen antifaschistisch-demokratischen Frauenausschuss gelungen, eine Schulspeisung zu organisieren. Um neun Uhr gab es ein Brötchen mit Malz-Kaffee und mittags eine warme Suppe. Bei der damaligen Versorgungssituation grenzte eine solche Schülerversorgung an ein Wunder.

Mit Vorfreude bereiteten Lehrer und Kinder das Weihnachtsfest vor. Es stand unter dem Thema: „Rettet die Kinder!“ Am 22.12. luden Schüler und Lehrer zur Weihnachtsfeier ein, zu der sich viele Gäste einfanden. Der Schulchor sang alte und neue Weihnachtlieder; Schüler trugen Gedichte vor. Viel Freude bereitete Schauspielern und Zuschauern ein selbstverfasstes Theaterstück, „Hannes Weihnachtswünsche“. Ein Gedicht zum Thema des Festes drückte die Gedanken und Wünsche der Lehnitzer Kinder von 1945/46 aus: „Die erste Friedensweihnacht soll’s ja werden, und Friede wird’s ja endlich sein auf Erden. In dieser leiderfüllten Zeit: ‘Rettet die Kinder’ ist die Losung allgemein. Da stimmen auch die Kinder hier in Lehnitz freudig ein!“