Else Wolf – zum 120. Geburtstag einer engagierten Mitbürgerin

Else Wolf – zum 120. Geburtstag einer engagierten Mitbürgerin

Von Bodo Becker

Am 20. Mai 1968 überreichte Bürgermeister Walter Lindau (Amtszeit: 1965-1972) Else Wolf zu ihrem 70. Geburtstag eine Urkunde (datiert vom 17. Mai) über die Ehrenbürgerschaft der Gemeinde Lehnitz. Die Kommune wollte damit nicht in erster Linie die Frau des Schriftstellers, Dramatikers und Arztes Friedrich Wolf ehren, sondern eine engagierte Mitbürgerin, die seit zwanzig Jahren in vielfältiger Weise das kommunale Leben in der Gemeinde mit gestaltet hatte. Zu diesem Zeitpunkt war die schlanke, hochgewachsene Frau mit den weißen Haaren den meisten Lehnitzern gut bekannt, wenn sie sich in ihrer typischen Haltung – mit einer Hand auf dem Rücken – in der Öffentlichkeit von Lehnitz bewegte. Sportliche Frühaufsteher konnten sie begegnen, wenn sie gemeinsam mit ihrer Nachbarin Marie Torhorst von gegenüber (Kiefernweg 2) im Lehnitzsee schwamm. Mit der zehn Jahre älteren Wissenschaftlerin, die nach dem Amt als erste Ministerin für Volksbildung in Thüringen ab 1951 mit ihrer Schwester Adelheid in Lehnitz lebte, verband sie eine enge Freundschaft. Fünfzig Jahre sind seitdem vergangen und nur für wenige ist Else Wolf heute noch ein Begriff. Die nachfolgenden Ausführungen versuchen daher, das Leben und Wirken der einzigen Lehnitzer Ehrenbürgerin wieder in Erinnerung zu rufen. Else Wolf kam als zweite Tochter der wohlhabenden Familie Dreibholz in Remscheid zur Welt. Sie besuchte das ansässige Lyzeum und anschließend ein Kindergärtnerinnenseminar. Im April 1922 heiratete die Kindergärtnerin Else Dreibholz den sozial engagierten Arzt und noch unbekannten Schriftsteller Friedrich Wolf. Vor ihr lag ein bewegtes Leben – nicht ohne persönliche Enttäuschungen – an der Seite eines kämpferischen Schriftstellers und Antifaschisten. Mit seiner Frau sowie den 1923 (Markus) und 1925 (Konrad) geborenen Söhnen floh der von den Deutschnationalen und Nazis gehasste kommunistische Dramatiker 1933 aus Deutschland. Die Sowjetunion gab ihnen ein neues Zuhause, das schon bald vom stalinistischen Terror geprägt war. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion beteiligten sich Wolf und seine beiden Söhne aktiv an der Verteidigung ihrer Exilheimat. Erst nach einer direkten Intervention an Stalin durften Wolf und seine Frau im Oktober 1945 endlich nach Deutschland zurückkehren. Die Söhne befanden sich als Rotarmisten bereits in der am Boden liegenden alten Heimat. Als die Wolfs im Dezember 1948 von Berlin-Pankow in die Lehnitzer Ernst-Thälmann-Siedlung in das Haus Kiefernweg 9 (heutige Nr. 5) zogen, wussten nur die wenigsten Lehnitzer um die Lebensgeschichte ihrer prominenten Neubürger; am ehesten vielleicht die ebenfalls prominenten Mitbewohner in der Siedlung.

Wohnhaus im Kiefernweg 5. Foto: B. Becker

Wohnhaus im Kiefernweg 5. Foto: B. Becker

Das sollte sich in den nächsten Monaten auch nicht ändern, denn der vielbeschäftigte Wolf war nur wenig in der Lehnitzer Öffentlichkeit zu sehen. Bereits ein Jahr später, im Februar 1950, hielt sich Wolf bis Juni 1951 als erster Botschafter der DDR in Polen auf. Wieder zurück in Lehnitz stürzte er sich erneut in die schriftstellerische und kulturpolitische Arbeit. Else Wolf war dabei seine unbestechliche Kritikerin. Bis unmittelbar vor seinem Tode, am 5. Oktober 1953, verfasste Wolf Theaterstücke, schrieb Drehbücher für die DEFA und gab zahlreiche Kinderbücher heraus, die weit über seinem Tod hinaus hohe Popularität erlangten. Noch am 13. September 1953 weihte er in Lehnitz eine Parkanlage mit einem Gedenkstein für die in den USA hingerichteten Julius und Ethel Rosenberg ein, der auf seine Initiative entstanden war. Else Wolf beteiligte sich nach der Rückkehr aus Warschau zunehmend am politischen und kulturellen Leben vor Ort. Im September 1952 berichtete sie in einem Brief an Wolf nicht ohne Stolz über ein gelungenes Kinderfest am Restaurant „Seelöwe“ anlässlich des Weltfriedenstages (1. September), an dem sie teilgenommen hatte. Nach dem Tod ihres Mannes sah Else Wolf (sie war gerade 55 Jahre alt) ihre vornehmlichste Aufgabe darin, das literarische Erbe aufzuarbeiten und der Forschung zugänglich zu machen. Gemeinsam mit Walther Pollatschek baute sie das Friedrich-Wolf-Archiv in Lehnitz auf und besorgte die Herausgabe der „Gesammelten Werke“ (1960-1968). Unermüdlich waren ihre Aktivitäten für das Wachhalten der Erinnerung an Friedrich Wolf. Lehnitz als Wohn- und Sterbeort spielte dabei eine wichtige Rolle. Die Existenz der heutigen Friedrich-Wolf-Gedenkstätte ist daher ohne die geleistete Arbeit von Else Wolf nicht denkbar. Bereits im Oktober/November 1953 beantragte der Rat der Gemeinde Lehnitz die Umbenennung der Freiheitsstraße in Friedrich-Wolf-Straße (einschließlich Friedrich-Wolf-Platz) und des Kulturhauses in „Friedrich-Wolf-Haus“ anlässlich des 65. Geburtstages des Dichters am 23. Dezember. Das kulturelle Leben der nächsten beiden Jahrzehnte in Lehnitz wurde entscheidend von Else Wolf als Gestalterin, Initiatorin und Mäzenatin mitgeprägt. Im November 1954 stellte sie auf einer Veranstaltung im Kulturhaus junge – in Lehnitz wohnende – Schriftsteller vor. Ingeborg Schwenkner (1955 heiratete sie Heiner Müller, 1925-1966), Olaf Badstübner und der später bekannte DDR-Dramatiker Heiner Müller (1929-1995) lasen aus ihren ersten Werken. Else Wolf und Ingeborg Schwenkner kannten sich bereits seit Ende 1951 als Nachbarinnen in der Siedlung und aus der gemeinsamen Arbeit in der Ortsparteigruppe der SED.

Else Wolf in Lehnitz. Mit freundlicher Erlaubnis der Friedrich-Wolf-Gedenkstätte, Repro B. Becker

Else Wolf in Lehnitz. Mit freundlicher Erlaubnis der Friedrich-Wolf-Gedenkstätte, Repro B. Becker

Hier betreute Else Wolf als Mitglied der Parteileitung die Kulturarbeit und hatte sie mit den Worten begrüßt: Sie sei hier für alle die Meni und hätte einen ziemlichen Schädel, doch das würde sie schon früh genug mitkriegen. Trotz des großen Altersunterschiedes entstand zwischen den beiden Frauen eine aufrichtige Freundschaft. Eindrucksvoll widerspiegelt sich diese Beziehung in den mitfühlenden Zeilen, die Ingeborg Schwenkner nur wenige Stunden nach dem Tod des Schriftstellers an die Witwe geschrieben hatte: „Meine liebe Meni, in herzlicher aufrichtiger Anteilnahme möchte ich Dir mein Beileid sagen zu dem schweren Verlust, der Dich betroffen hat. Worte können zu wenig ausdrücken, aber Du weißt ja selbst, dass wir alle mit Dir trauern und in Deinem Leid an Deiner Seite stehen. Um wenn ich Dir in irgendeiner Weise helfen, Dir irgendeine Mühe abnehmen kann, lass es mich bitte wissen – Du weißt, dass ich Deine Hilfe nicht vergessen habe und Dir mit mehr als nur Worten helfen möchte. Ich wünsche Dir vor allem, dass Deine Kraft und Tapferkeit, die wir an Dir immer wieder schätzen gelernt haben, Dir über das Schwerste hinweghelfen möge. In herzlicher Verbundenheit, Inge“. (Zitat aus: Geipel, Ines: Dann fiel auf einmal der Himmel um. Inge Müller. Die Biografie. – Berlin, 2002. S. 135) Von 1957 bis 1969 arbeitete Else Wolf als Mitglied im Rat der Gemeinde mit. Hier initiierte und unterstützte sie kulturelle Projekte, die ihre Wirkungen bis in die Gegenwart haben. 1958 fasste die Kulturkommission den Beschluss, eine Laienspielgruppe zu gründen. Nach schwerer Anlaufzeit fanden sich 15 Laienspieler unter der Leitung von Jochen Richter zum „Lehnitzer Zimmertheater“ am Friedrich-Wolf-Haus zusammen. Mit Unterstützung von Else Wolf sollte das dramatische Erbe Friedrich Wolfs gepflegt werden.

Else u. Friedrich Wolf in Lehnitz. Mit freundlicher Erlaubnis der Friedrich-Wolf-Gedenkstätte, Repro B. Becker

Else u. Friedrich Wolf in Lehnitz. Mit freundlicher Erlaubnis der Friedrich-Wolf-Gedenkstätte, Repro B. Becker

Als erstes kam das Dokumentarstück „Krassin rettet Italia“ im Februar 1959 vor 112 Zuschauern zur Aufführung. Doch die räumlichen Bedingungen für derartige Veranstaltungen waren im Kulturhaus nicht gerade ideal. Darum bauten sich die Laienspieler 1960 mit Hilfe von Handwerkern den größten Raum im Hochparterre des Hauses zu einem Zimmertheater aus. Else Wolf stand mit 3000 DM zur Seite. Angespornt von den Aktivitäten der Theatergruppe fassten der Rat der Gemeinde und die Gemeindevertreter im gleichen Jahr einen Beschluss über den Bau eines großen Kulturhaussaales. Mit zahllosen freiwilligen Arbeitseinsätzen, an denen sich auch Else Wolf beteiligte, wurde das Gebäude errichtet. Endlich, am 12. Oktober 1963, war es dann soweit. Die Lehnitzer Einwohner konnten mit einer festlichen Einweihungsveranstaltung ihren langersehnten, gemeinsam errichteten Kulturhaussaal in Besitz nehmen. Besondere Aufmerksamkeit rief bei den Anwesenden eine von Else Wolf finanzierte Fototafel an der Rückseite des Saales hervor, die den langgestreckten Raum optisch verkürzen sollte. Die darauf abgebildeten zwölf Figuren aus Dramen von Friedrich Wolf hatte der Künstler Konrad Felixmüller (1897-1977) gestaltet. Lehnitzer Kinder und Jugendliche wurden schon frühzeitig mit dem Werk Friedrich Wolfs vertraut gemacht. Für sie war der verstorbene Dichter kein Unbekannter, besaß doch ihre Schule seit dem 12. Juni 1966 seinen Namen. Doch nicht nur kulturpolitisch trat Else Wolf in Erscheinung. Ihr Interesse richtete sich auch auf die Betreuung der Kinder und die Lösung sozialer Probleme. Lehnitzer Kindereinrichtungen und die Rentnerbetreuung konnten sich über ihr Engagement und so manche Unterstützung von ihr freuen. Über das kommunalpolitische Wirken berichtete auch Herbert Kreuschner. Die Wolfs hatten 1953 den späteren Lehnitzer Bürgermeister (Amtszeit: 1953-1965 und 1993-1998) mit seiner Frau zeitweilig bei sich aufgenommen. Im Jahre 2002 äußerte sich Kreuschner über Else Wolf in einem Interview: „… als Ratsmitglied hat sie über alle Belange der Gemeinde mitentschieden, seien es kulturelle Fragen, Finanzen, Bauvorhaben oder Wohnungsvergabe. Meni war ebenso resolut wie verständnisvoll und ging immer offen auf andere zu.“ Ärgerlich wurde sie über Vorgaben der Kreisparteileitung, die den Spielraum für die Lehnitzer Kommunalpolitiker eingrenzten. Kritik kam auch von ihrer Seite, wenn Wohnungen an genehme Genossen, statt an bedürftige Familien vergeben wurden. Anfang Mai 1973 diagnostizierten die Ärzte bei Else Wolf eine Krebserkrankung. Trotz ihrer fortgeschrittenen Krankheit, ließ sie sich gegen den Rat der Ärzte zu ihrem 75. Geburtstag nach Lehnitz fahren. Sie wollte den Freunden keine Enttäuschung bereiten, die eine Gratulationscour vorbereitet hatten. Doch schon mittags mußte sie wieder ins Krankenhaus zurückkehren. Hier starb Else Wolf am 9. Juli 1973 im Regierungskrankenhaus in Berlin. Auf der Trauerfeier am 17. Juli in Lehnitz kennzeichnete der Lehnitzer Schriftsteller Günther Stein (1922-1982) in seiner Gedenkrede unter anderem den bestimmenden Wesenszug der Persönlichkeit von Else Wolf: Sie hatte für sich das Recht in Anspruch genommen, mehr sein zu wollen, als die „Gattin des Dichters“ oder später gar „die Witwe“. Diese selbst gestellte Lebensaufgabe erfüllte sie nach dem Tode von Friedrich Wolf mit großer Hingabe. Dazu gehörte auch das engagierte Bemühen, sich für das Allgemeinwohl ihres Heimatortes aktiv einzubringen.