Lehnitzer Geschichten: Ostern 1959 – ein Spaziergang um den Lehnitzsee

Ostern 1959 – ein Spaziergang um den Lehnitzsee

Von Bodo Becker

Teil 1. Vom Bahnhof bis zur Saubucht

Kurz nach 10 Uhr läuft die S-Bahn aus Berlin kommend am Lehnitzer Bahnsteig nach Oranienburg ein. Gemeinsam mit vielen weiteren Fahrgästen verlassen die Brüder Lothar und Harry den Bahnhof in Richtung Nordgelände, vorbei an der Bahnhofsaufsicht und der Mitropa-Gaststätte. Nach kurzem gepflasterten Gehweg vom Bahndamm hinunter stehen sie an der Friedrich-Wolf-Straße. Unmittelbar neben dem Aufgang zum Bahnhof bietet eine nette Verkäuferin aus einem mobilen Häuschen leckeres Eis an. An ein längeres Verweilen denken unsere beiden Ausflügler jedoch nicht. Sofort fällt ihnen die gepflegte Anlage des „Julius und Ethel Rosenberg Parks“ auf dem Eckgrundstück Florastraße/Friedrich-Wolf-Straße ins Auge.


Postkarte, 1958. Archiv B. Becker

Am 13. September 1953 hielt hier der im Ort lebende Schriftsteller Friedrich Wolf die Gedenkrede anlässlich der Namensgebung des Parks. Die Rosenbergs waren trotz weltweiter Proteste nach einem US-Gerichtsurteil wegen angeblicher Atomspionage für die Sowjetunion am 19. Juni 1953 auf dem elektrischen Stuhl gestorben. Ein großer Findling mit dem Schriftzug „In memoriam Ethel und Julius Rosenberg“ am Parkeingang weist auf das Gedenken hin.

Wie nahezu alle angekommenen Berliner – es sind fast fünfzig – gehen sie auf der geradlinigen Hauptstraße in Richtung Norden. Wer sein Fahrrad mitgebracht hat, kann den Fahrradweg zum schnelleren Fortkommen nutzen. Ziel ist der Lehnitzsee mit seiner natürlichen Umgebung. Nach wenigen Minuten durchschneidet die Straße einen runden Denkmal-Platz.


Foto, um 1975. Archiv B. Becker

Der ursprüngliche „Heldengedenkstein“ aus dem Jahre 1928 erhielt im September 1949 als VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes)-Denkmal mit der Inschrift „ Den Toten zu Ehren, den Lebenden zur Pflicht“ eine neue politische Aussage und Symbolik. Das angebrachte rote Dreieck über den Text steht für die politischen Häftlinge in den Konzentrationslagern.

Die Brüder gehen weiter bis zum Restaurant „Seebad Lehnitz“, das zu der am 9. Juni 1947 abgebrannten Badeanstalt gleichen Namens gehörte. Diese lag hinter dem Restaurant am Badeweg, der nun über einen schmalen Privatweg von der Friedrich-Wolf-Straße her erreichbar ist. Auf ihn geht es weiter bis zum Beginn der Uferpromenade. Von dem mit Bäumen besäumten schattigen Fußgängerweg hat man einen guten Blick über die ganze Breite des Sees nach Oranienburg hinüber. Unverkennbar ist dabei der 1896 errichtete, hinter dem hellen Gebäude des Zählerwerkes aufragende Wasserturm. Neben Freizeit-Booten durchziehen immer wieder Schleppzüge mit bis zu drei Lastkähnen die ganze Länge des Lehnitzsees, der seit 1914 Bestandteil des Großschifffahrtsweges zur Oder ist. Im Sommer hängen sich an den durchhängenden Stahlseilen zwischen den Kähnen leichtsinnige Halbwüchsige und lassen sich eine Zeitlang mitziehen.

Für die Ortslage des Sees haben die Planer des Villenvororts Lehnitz in den 1880er Jahren auf gebührenden Abstand zwischen der Grundstücksparzellierung und dem Uferbereich geachtet, so dass sich hier Bäume und Unterholz ungehindert ausgebreitet haben. Unweit hinter dem charakteristischen Bogen (slawisch Lenczen bedeutet “Bogen”) des Sees befindet sich ein weißer Schiffsanlegesteg.


Anlegesteg der „Weißen Flotte“. Postkarte, 1972. Archiv B. Becker

Er kündet die Nähe einer am Wasser liegenden Gaststätte an, denn von Hennigsdorf oder Oranienburg kommen noch vereinzelt Fahrgastschiffe zum Lehnitzsee. In kurzer Zeit sind unsere Spaziergänger an der zuwachsenden Terrassenanlage des ehemaligen Restaurants „Zum Seelöwen“. Von der Eröffnung 1892 bis zu den schweren Bombenschäden 1945 zählte die Lokalität von Karl Scheidt mit seinen mehreren Tausend Sitzplätzen zur ersten Adresse als Ausflugsziel im nördlichen Berliner Umland. Fünf Schiffe von Berliner Reedereien fanden hier gleichzeitig einen Anlegeplatz und ergossen ihre Passagiere in die „Perle des Norden“. Nun kann man sich in dem nur wenige Schritte entfernt liegenden Terrassenrestaurant „Seeblick“ der staatlichen Handelsorganisation HO verwöhnen lassen. Bei weitem nicht so großzügig errichtet wie der „Seelöwe“, hat Scheidt die jetzige HO-Gaststätte am 1. Osterfeiertag 1948 als Nachfolgerin eröffnet. In der Gaststube und auf den drei Terrassen finden einige Hundert Gäste Platz. So auch Lothar und Harry, die sich an einem Tisch auf der untersten Terrasse ein kühles Getränk und Bockwurst mit Kartoffelsalat gönnen.


HO-Gaststätte „Seeblick“. Postkarte, 1971. Archiv B. Becker

Lange können sie sich nicht aufhalten, denn ¾ der Wegstrecke steht ihnen noch bevor. Auf der Seepromenade geht es vorbei an den letzten Siedlungshäusern von Lehnitz, um dann in einen bis an das Seeufer reichenden Mischwald zu kommen. Zunächst steht rechts vom Weg ein schöner Birkenbestand, dessen Ausdehnung bis zu einem 3-4 Meter hohen Steilhang reicht. Er ist das ehemalige Seeufer und zieht sich bis auf wenige Ausnahmen an der gesamten Lehnitzer Seite bis zum Ende des Sees hin. Im Zuge der Durchleitung der neuen Wasserstraße durch den Lehnitzsee sank der Wasserspiegel um 1,5 Meter, so dass das Ufer nun als Anhöhe erscheint. Das Birkenwäldchen endet am Freibad „Weißer Strand“ mit einem großen Liegebereich. Der feinkörnige Badestrand stammt von dem Aushub eines nicht realisierten Krankenhausbaus im Jahre 1941. Bei sommerlichem Wetter liegen hier Decke an Decke die Wasserfreunde oder tummeln sich im Wasser. Eine vorhandene Rutsche ins Wasser steigert das Badevergnügen. Für die Ausflügler mit „eigenem Dach über den Kopf“ gibt es seit den 1920er Jahren einen Zeltplatz in unmittelbarer Nähe. Schon zum Osterfest kann man einige Zelte zwischen den Bäumen ausmachen.


Zeltplatz Lehnitz. Foto, 1970er Jahre. Archiv. B. Becker