Ein Denkmal erzählt. Teil 2. Zeiten der Erneuerung, des Stillstands, der Neuwidmung und der Sinnhaftigkeit

Von Bodo Becker

Vier Jahre sollten vergehen bis ich wieder Beachtung fand. Wo sich bis 1945 das “Eisernen Kreuzes” befunden hatte, wurde nun ein rotes, gleichschenkliges Dreieck angebracht, wie es die politischen Häftlinge in den Konzentrationslagern an ihren gestreiften Anzügen getragen hatten. Die Tafel mit den Namen der toten Soldaten wurde abgeschraubt und dafür meißelte man eine Inschrift in meinen Stein: “Den Toten zu Ehren, den Lebenden zur Pflicht”. Ich war ein VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes)-Denkmal geworden.

Abb. 1. Offizielle Postkarte der VVN von 1948. Archiv B. Becker

Am 24. September 1949, es ist der Gedenktag für die Opfer des Faschismus, erfolgte im Beisein vieler Lehnitzer und Gäste meine feierliche Einweihung. Der Redner sprach von den Opfern des antifaschistischen Kampfes, über die herausragende Rolle der Roten Armee bei der Befreiung Deutschlands vom Faschismus und vom Kampf gegen die drohende Spaltung des deutschen Vaterlandes. Kinder mit blauen Halstüchern und Jugendliche in blauen Hemden standen gemeinsam mit Erwachsenen auf dem Friedensplatz (ab 1953 Friedrich-Wolf-Platz), wie der Kaiser-Kaiser-Wilhelm-Platz nun hieß. Wenige Tage später zogen die Jugendlichen in Blauhemden an mir vorbei zum Bahnhof. Sie fuhren nach Berlin, um an der Demonstration der Jugend anlässlich der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik teilzunehmen.

Abb. 2. Das VVN-Denkmal in den 1970er Jahren. Archiv B. Becker

An den Feiertagen dieser Republik wehten rote Fahnen und die Fahne der ersten Republik aus meiner Entstehungszeit, ab 1959 erweitert um einen Ährenkranz mit Hammer und Sichel. Kränze wurden niedergelegt und Reden gehalten, deren Inhalte im Verlauf der Jahre zu Phrasen verkamen und auf die Zuhörer nur oberflächlich wirkten. Mein ursprünglicher Sinn, der ermordeten Widerständler und Verfolgten des NS-Regimes zu gedenken, geriet dabei in den Hintergrund. Aber das konnte eigentlich nicht verwundern, denn nur wenige Lehnitzer waren Widerstandskämpfer gewesen. So machte sich sogar Unkraut in meiner Nähe auf dem Platz breit. Trotzdem befand ich mich, wenn auch nicht immer bewusst wahrgenommen, mitten im Lehnitzer Leben. Viel fröhliches Treiben kam von den Schulkindern, die das Rund des Platzes mehrmals am Tag lärmend umliefen und ihn manchmal – in Zeitnot – auch überquerten. Müde Fußgänger, sonnenhungrige Großstädter, schwankende Zecher und sogar Liebespaare ließen sich zu allen Tageszeiten auf den Bänken nieder. In einer Nacht im August 1991 geschah das bis dahin Unvorstellbare: Gestalten mit einer Sprühflasche näherten sich meinem Stein, besprühten das rote Dreieck mit weißer Farbe und auf den Text malten sie ein eingekreistes Kreuz. Ich war ein geschändetes Denkmal. Der Bürgermeister ließ mich zunächst mit einer alten Decke verhüllen.

Abb. 3. Das verhüllte Denkmal im August 1991. Archiv B. Becker

Am darauffolgenden Tag musste ein Gemeindearbeiter in mühsamer Arbeit die Farbe beseitigen, was ihm nicht vollständig gelang. Spätestens jetzt war allen klar – mit mir musste etwas geschehen. An Biertischen, in Parteiversammlungen, in Gemeindevertretersitzungen, befördert von gleichartigen Auseinandersetzungen in Nachbarorten, hob eine große Diskussion über meine Sinnhaftigkeit an. Sie dauerte vier Jahre. Auf den Friedhof wollten mich einige schaffen und statt meiner ein gänzlich neues Denkmal aufstellen. Zweimal zogen die Lehnitzer Schützen mit singendem Spiel vorüber, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Abb. 4. Die Lehnitzer Schützenvereine, 1994. Archiv B. Becker

Endlich, an den letzten Tagen des Monats August 1995, rückten mir Arbeiter zu Leibe. Die Gemeindevertreter hatten sich entschieden: Kein Kriegerdenkmal; kein Denkmal, das andere Opfer ausgrenzt: ein Denkmal für alle Opfer sollte ich sein. Mein oberer Stein, mit dem vorher entfernten Dreieck, wurde um 180 Grad gedreht, der darunter liegende Text mit einer Tafel aus schwarzem Marmor überdeckt. Am Weltfriedenstag, dem 1. September 1995, fand meine nunmehr dritte Einweihung mit einer Kranzniederlegung statt. Bürgermeister Herbert Kreuschner enthüllte die neue Tafel mit dem Text unter einer gebrochenen Rose: “Den Opfern von Kriegen und Gewaltherrschaft”. Vertreter aller im Ort ansässigen Parteien und Vereine waren erschienen. Gemeindevertreter Siegfried Graf hielt die Einweihungsrede. Leider waren die Lehnitzer Bürger der Einladung nicht so zahlreich gefolgt, wie man es sich gewünscht hatte. Es lag wohl auch am demokratischen Prinzip der Freiwilligkeit, das nach den Jahren der Pflicht nicht immer das überzeugendste ist.

Abb. 5. S. Graf hält seine Einweihungsrede vor den erschienen Lehnitzern. Archiv B. Becker

Eine Woche später legten auch die beiden Lehnitzer Schützenvereine und ihre Gäste einen Kranz nieder. Sie gedachten auf ihre Weise mit gezogenen Säbeln und gesenkten Fahnen der Opfer. Stimmungsvoll sprach eine Rednerin Worte des Gedenkens aus dem Gedicht “Morgen” von Gottfried Keller. Mit dem abschließenden Singen der zweiten Strophe des Deutschlandliedes war es fast so schön wie bei meiner ersten Einweihung, wenn da nicht das Wissen um die Geschehnisse der vergangenen sieben Jahrzehnte gewesen wäre.

Abb. 6. Lehnitzer Schützen bei der Einweihung im September 1995. Archiv B. Becker

Fünfzehn Jahre später findet kein Lehnitzer Schütze mehr den Weg zu mir. Aber auch die Einwohner nehmen am Gedenken anläßlich des Volkstrauertages nur spärlich bzw. gar nicht teil. Woran liegt das? Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft gibt es leider noch immer viel zu viel. Dreht sich alles nur um uns? Ist uns das Mitgefühl abhanden gekommen? Oder hat sich diese Art und Weise des Gedenkens überlebt? Wir sollten einmal darüber nachdenken!

Abb. 7. Gedenken mit Pfarrer Philipp im November 1999. Archiv B. Becker