Richard Becker – Bürgermeister in schwieriger Zeit. Teil 1. Am Anfang der kommunalen Selbstverwaltung

Richard Becker – Bürgermeister in schwieriger Zeit. Teil 1. Am Anfang der kommunalen Selbstverwaltung

Von Bodo Becker

Die Persönlichkeit Richard Beckers steht für die Bürgergemeinde Lehnitz am Anfang ihrer kommunalen Selbstverwaltung. Seit dem 1. Juli 1922 existierte der ehemalige Gutsbezirk Lehnitz mit Genehmigung des Preußischen Staatsministeriums als eine selbständige Landgemeinde mit gleichem Namen. Sie gehörte zum Amtsbezirk Birkenwerder. Doch schon drohte der jungen Gemeinde Ungemach vom großen Nachbarn gegenüber des Lehnitzsees. Eine Kommission der Oranienburger Stadtverordnetenversammlung empfahl nur wenige Wochen später die Eingemeindung. Der Magistrat lehnte das Ansinnen jedoch ab und ein Zeitungskommentar kolportierte auch gleich die Begründung: „…kann es Lehnitz jetzt noch schwer fallen, sich die Rolle des Stiefkindes auszumachen, wenn es erst mal eingemeindet ist, nach dem man ihm schon jetzt amtlich attestiert hat: Du bringst uns ja keine wirtschaftlichen Vorteile!“ Für den Aufbau einer funktionierenden Amtsverwaltung war also Eile geboten.

Abb. 1. Briesetal-Bote, 19. September 1922

Im September 1922 wählten die Lehnitzer ihr erstes Gemeindeparlament. Neun Abgeordnete zogen in die erste kommunale Volksvertretung. Dazu gehörte Emil Götze, Angehöriger einer Familie, die bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Lehnitz lebte. Noch nicht so lange im Ort, aber dafür als erfolgreicher Vertreter des Lehnitzer Gaststättengewerbes, erhielt der Besitzer des Restaurants Zum Seelöwen, Carl Scheidt, ein Mandat. Zu erwähnen ist auch der Ratsmaurermeister a.D. Karl Koeppen, der sich schon gemeinsam mit den Grütters vor 1914 für den Villenvorort engagiert hatte. Der Rittergutsbesitzer a.D. Richard Lentz eröffnete die lange Reihe der Lehnitzer Bürgermeister, damals Gemeindevorsteher genannt.

Dass kommunale Selbstverwaltung auch ein schwieriger Lernprozess ist, kann man am häufigen Wechsel ihres Oberhauptes ersehen. In den ersten zwei Jahren lösten sich drei Amtsträger ab. Erst Richard Becker bringt mit seiner Wahl im September 1924 die nötige Kontinuität in das Amt. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kaufmann bereits ein bewegtes Berufsleben hinter sich. 1877 in Berlin geboren, besuchte er erfolgreich das berühmte Gymnasium Graues Kloster. Nach dem Willen des Vaters sollte er Theologie studieren, jedoch setzte er sich mit einer kaufmännischen Lehre durch.

Abb. 2. R. Becker mit seiner Frau Betti an Bord der Megada bei der Überfahrt von Südamerika nach Deutschland im Februar 1911. Abb. 2-4 Archiv B. Becker

Zunächst trieb ihn sein Beruf nach Hamburg. Von dort ging Becker mit seiner ersten Frau nach Südamerika. Hier wirkte er als Konsul einer Salpeter-Gesellschaft in Chile und Bolivien. 1924 kehrte Becker nach Deutschland zurück. Es zieht ihn in das aufstrebende Lehnitz, wo sein Vater, Ferdinand Becker, bereits vor dem Ersten Weltkrieg in der Florastraße ein Haus gekauft hatte und nun als Vertreter der ersten Generation im Gemeindeparlament sitzt. Als Richard Becker das Bürgermeisteramt übernimmt, zeichnet er sich durch kaufmännische Verwaltungserfahrung, Korrektheit und weltoffene Toleranz aus. Eigenschaften, die der Bewältigung der vor ihm liegenden Aufgaben zugute kommen sollten.

Die Lokalzeitungen Briesetal-Bote und Oranienburger General-Anzeiger berichten kontinuierlich über die Lehnitzer Gemeindevertretersitzungen und das Gemeindegeschehen.

So können wir uns heute ein lebendiges Bild über die kommunalen Probleme jener Jahre machen. Mit Leserzuschriften in Vers- und Prosaform sollen die Gemeindevertreter zum Handeln veranlasst werden. So z.B. vermutlich von einem Kriegsteilnehmer im Sommer 1925: „Der Zustand unserer Strassen lässt manches zu wünschen übrig. Man fühlt sich recht lebhaft an gewisse Zustände erinnert, die etwa vor Verdun im Kriege herrschten, denn der Weg macht den Eindruck, als ob vor kurzen ein reichlicher Abendsegen aller Kaliber darüber hinweggegangen wäre.“

Abb. 3. Der unbefestigte Birkenwerderweg in Richtung Gutsplatz. Zu sehen das älteste Haus von Lehnitz, 1977 abgerissen. Ansichtskarte nach 1918

Geplant wird zunächst, die Kaiser-Wilhelm-Strasse (Friedrich-Wolf-Straße) mit einem Kostenaufwand von 75tausend RM zu chaussieren. Im Oktober 1930 beginnen die Straßenbauarbeiten im Bereich des Birkenwerderweges. Die Kosten für das Straßenprogramm im Nordgelände wollen die Gemeindevertreter auf die 300 Siedler umlegen. Insgesamt belaufen sich die Straßenbaukosten auf 125tausend RM, von denen einen erheblicher Teil von den Anliegern zu tragen ist. Mit Erfolg setzt sich Becker für die Anliegen und Interessen der Gemeinde beim Amtsvorsteher in Birkenwerder oder Landrat des Kreises Niederbarnim ein. So z.B. im Mai 1928, als er erhebliche Nachteile für Lehnitz sieht, wenn die Firma Th. Goldschmidt AG Essen ihre Siedlungspläne im Südgelände unverändert verwirklichen kann. Der Gemeinde würden Nutzungsansprüche auf Parzellen entgehen, die sie nach Auffassung von Becker für ein notwendiges Feuerwehrdepot mit Dienstwohnung unbedingt benötigt, schreibt er an den Amtsvorsteher in Birkenwerder. Zugleich verweist er auf benötigte Grundstücke für einen Schul- und Kirchenbau (!). Darüber hinausgehend soll der Siedlungsträger Kosten für erforderliche infrastrukturelle Maßnahmen, wie Entwässerung, Straßenbau und –beleuchtung übernehmen.

Besonders am Herzen liegt Becker die Einsatzbereitschaft der Lehnitzer Feuerwehr. 1929 bekommt die Feuerwehr ihre erste Kleinmotorspritze. Für 18.5tausend RM beschließen die Gemeindevertreter im März 1931 den Bau eines Spritzenhauses mit Steigeturm am Birkenwerderweg 4. Die Einweihung des Geräte- und Wohnhauses der Freiwilligen Feuerwehr am 4. Juli des gleichen Jahres gestaltet sich zu einem gesellschaftlichen Höhepunkt im Ort. In seiner Dankesrede bezieht das Gemeindeoberhaupt ausdrücklich die Kameraden der Feuerwehr ein, die in ihrer Freizeit erheblich zum Gelingen des Bauwerkes beigetragen haben. 1977 fällt es im Zuge des Bahnhofneubaus der Spitzhacke zum Opfer.

Abb. 4. Das ehemalige Feuerwehr-Haus als Rat der Gemeinde Lehnitz, kurz vor seinem Abriss.