Lehnitz kommt an die Bahn!

Von Bodo Becker

Beginnen wir mit einem Zeitzeugen, August Trinius, der 1885 in seinen Märkischen Streifzügen u.a. folgende Sätze über Lehnitz veröffentlichte:

„Lehnitz war Jahrhunderte vergessen, bis eines Tages die Berliner Professionsraupe hier erschien, um sich nun allsommerlich einzupuppen und bei Kiefernduft, Kuhmilch und erfrischender Seeluft ein gar vergnügliches und beschauliches Leben zu fristen. Denn zu der bekannten Botenfrau (angelehnt an Jette Bath, B. B.) zwischen Berlin und Oranienburg hatte sich jetzt die Nordbahn gesellt, und es war schnurrig anzuschauen, wie das eiserne Ungetüm sich sichtlich abmühte, der Alten es an Schnelligkeit möglichst gleich zu tun, die lachend und mit dem Schopfe wackelnd, gemächlich nebenher lief, sich zuweilen wohl auf einem Meilenstein zum Rasten niederließ und doch immer die Erste hier wie dort war. Aber mit den Jahren ging der Alten doch die Puste aus und als sie in Lehnitz ankam, sah sie noch mit Verdruss, wie soeben der Zug schadenfroh pfeifend aus dem Bahnhof nach Oranienburg auslief. Von dieser Stunde an blieb sie daheim und ließ sich in Lehnitz nieder, wo sie ein Häuschen baute und bald schon einige Zimmer an die heran trabenden Sommergäste vermietete. Das war der Anfang.“ Damit endet die literarische Fiktion.

Zug in Richtung Berlin. Illustrationen aus dem Archiv des Verfassers

Nur noch ältere Lehnitzer werden den abgebildeten Bahnhof auf dem Foto aus der Zeit um 1935 noch kennen. Die Gebäude entstanden erst fünfzehn Jahre nach der Eröffnung der neuen Eisenbahnverbindung, Nordbahn genannt, zwischen Berlin und Stralsund.

Am Dienstag, dem 10. Juli 1877, gegen ¾ 8 Uhr morgens traf auf dem nach 1870 errichteten Oranienburger Bahnhof der erste fahrplanmäßige Zug der Nordbahn ein. Er war um 6.08 Uhr vom Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof (1881 bis 1950 Schlesischer Bahnhof, danach Ostbahnhof) abgefahren und hatte seinen Weg über die Gleise der Ringbahn mit den Bahnhöfen Stralau (Ostkreuz), Friedrichsberg (Frankfurter Allee), Weißensee (Greifswalder Straße) zum Verbindungs-Bahnhof Gesundbrunnen genommen. Hier begann die eigentliche Nordbahn. Obwohl sich ca. 800 Personen als Fahrgäste am ersten Zug eingefunden hatten, bemerkte man von einer festlichen Eröffnungsfahrt nichts. Weder Fahnen oder Girlanden putzten den Bahnhof noch besaß die Lokomotive ein geschmücktes Aussehen. Dies lag wohl am schwierigen Bau- und Finanzierungsgeschehen in den vergangenen vier Jahrzehnten, was sich in der Berliner Öffentlichkeit mit dem Wortspiel „Nordbahn – Mordbahn“ äußerte. (Einige Anleger hatten sich nach Verlusten das Leben genommen!) So beschränkte sich die Berichterstattung der Berliner Börsenzeitung auf nur wenige Sätze: „Nachdem bereits am Sonntag und Montag einige Züge auf der Nordbahn abgelassen sind, ist gestern früh ohne jede Feierlichkeit der fahrplanmäßige Betrieb auf der ganzen Strecke eröffnet worden. Die Züge fahren vom Verbindungsbahnhof ab und halten nach Bedarf an der Prinzenallee (Wollankstraße), bei Schönholz und bei Reinickendorf.“

Reproduktion aus „Bochzowia“. Nr. 4, Juni 1932. Foto von Max Rehberg

Auch in Oranienburg herrschte keine Feststimmung, denn die Stadt saß auf 30.000 Mark (145.000 Euro) Verlust. Nur wenige Zuschauer warteten am Bahnsteig auf den einfahrenden Zug. Für den Abend lud allerdings das Hotel-Restaurant Eilers „Zur Eröffnung der Nordbahn“ zu einem Krebsessen mit Ausschank von echtem Nürnberger Bier ein. Der Fahrplan wies für jede Richtung nur drei Züge auf der eingleisigen Strecke aus. Zwei davon verkehrten als gemischte Züge, die aus Personen- und Güterwagen bestanden, zwischen Berlin und Neubrandenburg (erst ab 1878 bis Stralsund). Ein Zug mit einigen Personenwagen der 2.-4. Klasse (genannt Omnibuszug!) endete in Oranienburg. Zunächst hielt er neben den bereits genannten Bahnhöfen nur noch in Hermsdorf und Birkenwerder.

Die noch nicht einmal 60 Lehnitzer sahen also nur schnell durchfahrende Züge. Doch nach wenigen Monaten, am 10. April 1878, erhielt der Gutsbezirk einen Bahnsteig, an dem nach Bedarf Züge hielten. Veranlasst hatte dies Gustav Grütter, der mit seinem Bruder Carl seit 1873 Eigentümer des Gutsbezirks war. Mit vorausschauendem Geschäftsinn nahm er an den Verhandlungen mit der Deutschen Eisenbahn-Baugesellschaft teil, die als Berliner Stadteisenbahn-Gesellschaft 1875 mit dem Bau der Stadtbahn begann. Dabei ging es neben der Streckenführung auch um die Einrichtung von Bahnhöfen. Schon 1880 pendelten täglich sechs Züge zwischen Oranienburg und dem Stettiner Bahnhof. Drei Züge hielten bei Bedarf in Lehnitz. Mit der Bahnanbindung an die prosperierende Reichshauptstadt zog der bis dahin unbekannte Ort mit See, Wäldern und billigem Bauland (wie auch die anderen Haltepunkte an der Strecke) Erholung suchende und begüterte Großstädter an.

Ansichtskarte mit Stehbierhalle, gelaufen vor 1906

Nachfolgend entstanden Ausflugslokale und eindrucksvolle Vorstadtvillen. Unmittelbar am Bahnübergang lud ein Straßen-Ausschank durstige Vorbeikommende ein. Daraus entstand später das Schweizerhaus, im Volksmund „Mausebude“. Auf die steigende Zahl der Fahrgäste reagierte die Preußische Staatseisenbahn mit einem zweiten Gleis für den Vorortverkehr ab 1891 sowie dem Bau von Bahnhöfen. Lehnitz bekam 1892 sein Bahnhofsgebäude am Bahnsteig nach Berlin aus roten Klinkersteinen mit einem Satteldach, runden Fensterbögen und farbig abgesetztem Fassadenschmuck. Das Gebäude beherbergte einen Dienstraum, einen Durchgang mit Fahrkarten-Schaltern und einen Warteraum. Daran schloss sich eine hölzerne, mit offenen Durchbrüchen versehene Wartehalle an. Etwas abseits davon stand eine separate „Abort-Anlage“. Später kam noch eine betreute Fahrradaufbewahrung hinzu. Die 1902 geplante zusätzliche Wartehalle auf dem Bahnsteig nach Oranienburg entstand jedoch nicht. Bis 1977 blieb den Lehnitzern das Bahnhofgebäude erhalten, dann musste es dem jetzigen Bahnhof weichen – ein sichtbarer Verlust an baulicher Ästhetik, aber dafür ohne Schranken!

Ankommende aus Richtung Berlin, vor 1945