Lehnitz als Fluchtziel, Ort des Widerstands und der humanistischen Solidarität. Teil 1
Von Bodo Becker
Abb. 1. V.l.n.r. Regine Lücke, Margarete und Fritz Falkenberg mit Claudia
Das Foto hält einen glücklichen Augenblick fest: Zwei Familien beim Fahrradausflug im Oktober des Jahres 1944. Sie bewahren ein lebensgefährliches Geheimnis. Gerhard Lücke und seine Frau Regine sind Gejagte in ihrer Heimatstadt Berlin und leben seit über einem Jahr mit ihrer Tochter Claudia bei den Freunden Margarete (1904-1985) und Fritz Falkenberg (1903-1977) in Lehnitz. Nur mit einem kleinen, unauffälligen hölzernen Koffer hatte die Familie an einem Frühlingstag 1943 die Berliner S-Bahn in Lehnitz verlassen. Für den Bahnhofsaufseher waren die Ankommenden nicht weiter beachtenswert, denn es ist zu jener Zeit nichts besonderes, dass sich Berliner Familien den zunehmenden Bombenangriffen auf die Reichshauptstadt durch einen zeitweiligen Wohnortswechsel in die Umgebung entziehen. Auch in Lehnitz haben sich Hauptstädter in ihre Siedlungshäuser dauerhaft einquartiert. Was der Beamte nicht wissen darf, ist der Umstand, dass die Familie sich auf der Flucht vor den Häschern der Gestapo und der SS befindet. Regine Lücke, geb. Reha Regine Schnaimann, ist Jüdin. 1939 wohnte die Familie noch in der Berliner Str. 44 in Berlin-Zehlendorf. Die am 31.10.1938 geborenen Tochter ist nach nationalsozialistischer „Un“-Rechtsauffassung ein sogenannter „Mischling 1. Grades“.
Verbrecherische Verfolgunspolitik
Für die Deutschen jüdischer Herkunft ist ihr Heimatland seit zehn Jahren in den Zustand mittelalterlicher Judenpogrome zurückgefallen. Nach der Volkszählung im Juni 1933 lebte fast eine halbe Million Staatsbürger jüdischer Herkunft in Deutschland. Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler wurde der Antisemitismus Teil der Regierungspolitik und erlangte durch die Beseitigung aller rechtsstaatlichen Prinzipien eine unvorstellbare Wirkungsmöglichkeit. Nach dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 begann eine erste Welle antijüdischer Gesetze und antisemitischer Terrorakte. Die Nürnberger Rassegesetze vom 15. September 1935 verboten unter anderem die Eheschließung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Heiratswilligen. Sie legten weiterhin fest, wer nach dem Reichsbürgergesetz Jude ist. Nach diesen Gesetzen sind die deutschen Juden „Staatsangehörige“ ohne Grundrechte, das hieß in der Praxis rechtlos.
Abb. 2. Am 14. August 1937 beschloss der Lehnitzer Gemeinderat, dass die vom Grundbesitzerverein gestifteten Bänke die Aufschrift „Nur für Arier“ erhalten sollen.
Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges spitzte sich die Situation für die jüdischen Mitbürger immer mehr zu. Höhepunkt war der Novemberpogrom 1938 – von den Nazis verharmlosend „Reichskristallnacht“ genannt. Synagogen und jüdische Einrichtungen wurden zerstört, jüdische Bürger misshandelt, ermordet oder zeitweilig in Konzentrationslager verbracht. Ab dem 19. September 1941 mussten sie in der Öffentlichkeit den gelben Davidstern tragen. Im Herbst des gleichen Jahres begannen die Deportationszüge in die Ghettos und Todeslager im Osten. Nur noch eine Restgruppe von ca. 163700 deutschen Juden gab es im Oktober 1941 im Reich. Vom 18. Oktober 1941 bis zum 27. März 1945 gingen von Berlin etwa 63 sogenannte Osttransporte in die Vernichtungslager und 117 sogenannte Alterstransporte in das Ghetto Theresienstadt. SS und Gestapo machten Jagd auf jüdische Menschen in Berlin, wo noch immer die größte Anzahl von ihnen lebte. Im Jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße und in der Synagoge Levetzowstraße hatte die Gestapo Sammellager für die zu Deportierenden eingerichtet. Die Zurückbleibenden sahen im Winter 1942/43 an den brutalen Abtransporten bei Frost und Schnee in überfüllten Güterzügen, dass diese Deportationen für viele den Tod bedeuten würde.
Abb. 3. Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Jüdischen Altersheims in der Großen Hamburger Straße
Die „Fabrikaktion“
Die NS-Führung wollte die Reichshauptstadt „judenfrei“ machen, wie sie zynisch verbreiten ließ. Am 27./28. Februar 1943 fand der letzte große Schlag gegen die bisher verschonten jüdischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in der Rüstungsindustrie statt. Zu diesem Zeitpunkt lebten in Berlin nur noch wenig mehr als 27000 jüdische Bürger. Bei der sogenannten „Fabrikaktion“ wurden ca. 8000 Personen direkt aus den Fabriken abgeholt und nach Auschwitz deportiert. Betroffen waren von dieser Aktion zunächst auch Jüdinnen und Juden aus christlich-jüdischen Mischehen. Diese (etwa 2000 Personen) brachte man in das Gebäude der ehemaligen Behörde für Wohlfahrtswesen und Jugendfürsorge der Jüdischen Gemeinde, das sich in Berlin-Mitte in der Rosenstraße 2-4 befand.
Abb. 4. Denkmal für das mutige Handeln der Frauen und Männer in der Rosenstraße
Bereits am Abend des 27. Februar bildete sich vor dem Gebäude eine Menschenmenge, die sich vorwiegend aus Frauen und Angehörigen der Inhaftierten zusammensetzte. Zeitweilig forderten die Anwesenden unüberhörbar die Freilassung der Festgehaltenen. Obwohl die historischen Quellen keinen eindeutigen Beweis dafür erbringen, dass es zwischen den öffentlichen Protesten gegen die drohende Deportation und der Freilassung bis Mitte März einen unmittelbaren Zusammenhang gab, stellte der öffentlich artikulierte Widerstand gegen antijüdische Maßnahmen des NS-Regimes einen bis dahin einmaligen Vorgang dar. Angesichts dieser verzweifelten Situation blieben den Betroffenen nur zwei Auswege – Illegalität oder Selbstmord. Die in der Illegalität lebenden Juden waren vollständig vogelfrei und schwebten in beständiger Lebensgefahr. Dabei waren sie auf den Besitz oder Erwerb von Geld angewiesen und abhängig von Nichtjuden bei der Beschaffung von Unterkunft, Nahrung und falschen Papieren. Ob Regine Lücke zu den Freigelassenen gehörte, wissen wir nicht. Vermutlich hatten die Ereignisse bei den Eheleuten die berechtigte Angst hervorgerufen, dass für die Ehefrau der Aufenthalt in Berlin eine ständige Gefahr für ihre persönliche Freiheit und Leben darstellen würde. Sie entschlossen sich, weiteren Verfolgungen durch Flucht in die Illegalität zu entgehen.