Lehnitz als Fluchtziel, Ort des Widerstands und der humanistischen Solidarität. Teil 2

Von Bodo Becker

Im Vorort Lehnitz hoffte die Familie auf die Hilfe der hier lebenden Freunde Margarete und Fritz Falkenberg. Die Falkenbergs wohnten seit 1934 ständig in Lehnitz. Als aktive Mitglieder der sozialdemokratischen Sportbewegung, unter anderem im Ruderclub Vorwärts und im Touristenverein Die Naturfreunde, verbrachten sie seit Ende der 1920er Jahre ihre Wochenenden am Lehnitzsee. Die ersten Jahre schliefen sie in einer Gartenlaube auf einem Grundstück im Havelkorso. Nach einer erfolgreichen Meisterprüfung konnte F. Falkenberg im Jahre 1932 die Parzelle kaufen. Sein Einkommen war gut, so dass die Eheleute zwei Jahre später in der Lage waren, ein Haus darauf zu errichten.

Abb. 1. Ausflug in den Berliner Norden, Februar 1930. 2. v.r. M. Falkenberg. Alle Bilder Archiv B. Becker

Gab also das persönliche Wohlergehen durchaus Anlass optimistisch in die Zukunft zu blicken, so entsprachen die politischen Verhältnisse nach 1933 keineswegs ihren Vorstellungen. Der Sozialdemokrat und seine Frau Margarete empfanden für das nationalsozialistische Regime tiefe Ablehnung. Sie gehörten daher zu den wenigen Lehnitzern, die sich ihre Menschlichkeit und Solidarität mit den Verfolgten des Regimes bewahrt hatten. Um der nationalsozialistischen Radiopropaganda nicht ausgeliefert zu sein und ausländische Informationen zu erhalten, nutzte der qualifizierte Elektromonteur seine Kenntnisse und baute ein Rundfunkgerät mit einer leistungsstarken Antennenanlage. (Bei der Reparatur des Hausdaches fand man 1996 ein Geflecht von Antennendrähten unter der Dachkonstruktion, das einen weiten Empfang ermöglicht hatte.) Im Sommer 1939 geriet Margarete Falkenberg in die Fänge der Gestapo. Das Sondergericht beim Landgericht Berlin strebte gegen sie wegen kriegsfeindlicher Äußerungen in der Öffentlichkeit einen Hochverratsprozess an. Nur durch den Einsatz verwandtschaftlicher Beziehungen konnte die drohende Verurteilung abgewendet werden.

Mutiger Widerstand und humanistische Solidarität

Nun brachte die für sie selbstverständliche Aufnahme der verfolgten Eheleute Lücke die Falkenbergs in eine weitaus schwierigere Situation. Sie allein waren unmöglich in der Lage, drei Personen im fünften Kriegsjahr zusätzlich zu ernähren und Regine Lücke vor der Entdeckung zu schützen. In Lehnitz gab es genügend überzeugte Nazis, die bereit waren, sich als Denunzianten auszuzeichnen. Die nach 1939 noch verbliebenen jüdischen Einwohner lebten daher in der akuten Gefahr, in ein Vernichtungslager im Osten deportiert zu werden. Davon zeugt die Deportation und die Ermordung des Tischlers Julius Iglick am 28. Juni 1944 im Ghetto Theresienstadt. Er wohnte nur wenige Häuser entfernt von den Falkenbergs und hatte im Birkenwerderweg eine Tischlerei betrieben.

Abb. 2. Havelkorso 92, verlegt am 30. Juni 2010

Die solidarische Hilfe weiterer Lehnitzer Antifaschisten war also unerlässlich. Dazu gehörten unter anderem die Eheleute Gaap, Eigentümer des Bootshauses ‚Aegir’ im Meisensteg am Oder-Havel-Kanal, und Georg Pinzke, der mit seiner Frau Charlotte im Wachtelweg ein kleines Wochenendhaus besaß. Alle waren mit den Falkenbergs gut bekannt. Die Genannten hatten bis September 1942 die Berliner Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ unterstützt. Fritz und Margarete Falkenberg wussten nichts über die Kontakte zu jener Gruppe von jungen Leuten, die sich als Absolventen der Internatsschule auf der Insel Scharfenberg im Tegeler See seit dem Sommer 1937 unter Führung von Hans Coppi im Bootshaus ‚Aegir’ getroffen hatten. Als unverdächtige Wassersportgruppe getarnt bereiteten sie hier antifaschistische Aktionen vor und versteckten Flugblätter, illegale Zeitungen und Bücher. Hans Coppi funkte vom Lehnitzsee aus in die Sowjetunion. Um die Funkpeilung zu erschweren, war er mit seinem Boot zwischen den Schleppkähnen gepaddelt. Die deutsche Funkaufklärung hatte den Sender mit dem Namen „Rote Kapelle“ versehen. Es war der Gestapo im September 1942 nicht gelungen, mit der Zerschlagung der Widerstandsgruppe auch die Lehnitzer Unterstützer zu ermitteln. Horst Gaap, der Sohn der Bootshaus-Eigentümer, hatte noch unmittelbar nach dem Zugriff der Gestapo belastendes Material im Lehnitzsee versenken können, was die weiteren Ermittlungen erschwerte.

Abb. 3. Polizeiliche Anmeldung in Lehnitz, 18. Dezember 1944

Erwähnung finden müssen weiterhin Gertrud und Alfred Jacob aus der Dianastraße, die ebenfalls zum Bekanntenkreis der Falkenbergs zu zählen sind. Die Persönlichkeit Alfred Jacobs gibt jedoch einige Rätsel auf. A. Jacob, Verlagsangestellter und ursprünglich aus sozialdemokratischem Milieu kommend, trat 1936 der NSDAP bei. Am 11. April 1943 übernahm er das Amt des Lehnitzer Bürgermeisters. Nach Aussagen des Sohnes von Georg Pinzke (Mario Pinzke) haben Gertrud und Alfred Jacob von der Anwesenheit der Familie Lücke gewusst und ebenfalls Hilfe geleistet.

Abb. 4. Gefährdete Geborgenheit im Havelkorso

Dabei soll A. Jacob seine Funktion genutzt haben, um die lange Anwesenheit der drei „zeitweiligen Lehnitzer“ unverdächtig erscheinen zu lassen. Als Bürgermeister könnte Jacob also dafür gesorgt haben, dass zumindest Gerhard Lücke mit seiner Tochter „ohne Abmeldeschein als vorübergehend zugezogen“ bei den Falkenbergs als Zweitwohnsitz polizeilich gemeldet wurde. Einen unmittelbaren Beweis gibt es dafür jedoch nicht. Nachweisbar ist aber ein Vorgang, wo A. Jacob so gehandelt hat. Im Dezember 1944 meldete Charlotte Pinzke den gerade zweijährigen Sohn von Hans und Hilde Coppi mit seiner Großmutter bei der polizeilichen Meldebehörde in Lehnitz an. Die Eltern des kleinen Jungen lebten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Als führende Angehörige der „Roten Kapelle“ waren sie zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Hilde Coppi mußte zehn Monate nach der Geburt ihres Sohnes Hans am 5. August 1943 ihr Leben lassen. Hier vollzog Bürgermeister Jacob die Anmeldung auf der oben beschriebenen Weise. Damit blieb dem Kind ein möglicher Heimaufenthalt erspart. Großmutter und Enkel wohnten bis zum Kriegsende im Wachtelweg, der 1946 in „Hilde-Coppi-Weg“ umbenannt wurde.

Würdigung „stille Helden“

Auch die mutige Tat von Margarete und Fritz Falkenberg fand mit dem Einmarsch der Roten Armee am 22./23. April 1945 einen glücklichen Ausgang. Ihr couragiertes Handeln hatte das Lebensglück einer Familie bewahrt. Fritz Falkenberg selbst geriet in den Wirren zum Kriegsende in russische Gefangenschaft. Am 11. September 1945 schrieb Georg Pinzke im Auftrag der Lehnitzer Ortsgruppe der KPD unter anderem folgende Zeilen an den russischen Kommandanten eines Gefangenenlagers in Köpenick: „…Wir bitten um die Freilassung des in Ihrem Lager befindlichen Antifaschisten Fritz Falkenberg aus Lehnitz… (Er) ist hier in Lehnitz jahrelang als aktiver Antifaschist bekannt. Nicht nur, dass er in Wort und Tat gegen Hitler kämpfte, sondern er gewährte auch der von der Gestapo gesuchten Jüdin Regine Lücke… sowie ihrem Mann und Kind Unterkunft und Verpflegung. Und schützte sie so vor dem Zugriff der Hitlerbanditen… In unserer Gemeinde, die nazistisch sehr verseucht ist, fehlt uns die wertvolle Kraft des Gen(ossen) Falkenberg, zumal der Gen. Falkenberg auch unter seinen Kameraden zersetzend gewirkt hat und ihnen gegenüber immer wieder betonte, dass er nicht gegen die Russen kämpfen wird.“ Nach einigen Wochen konnte Fritz Falkenberg das Lager verlassen. 1948 wanderten Regine und Gerhard Lücke mit ihrer Tochter in die USA aus. Der alte Holzkoffer befindet sich noch heute im Besitz des Sohnes Rainer Falkenberg.

Abb. 5. Der Holzkoffer von G. Lücke mit zurückgelassenen Büchern

Noch liegen viele Einzelheiten im Dunkeln, denn das Ehepaar Falkenberg hat später in der Öffentlichkeit über die Ereignisse nicht gesprochen. Im Frühjahr 2001 würdigte der damalige Bundespräsident Johannes Rau in Berlin auf einer Veranstaltung die Retter von untergetauchten Juden mit folgenden Worten: „Die Frauen und Männer… haben das getan, um andere Menschen zu retten. Sie haben das aus ganz unterschiedlichen Gründen getan. Manche haben aus weltanschaulicher, aus religiöser Absicht gehandelt. Manche haben gehandelt, um vor sich selbst bestehen zu können. Wieder andere haben ganz spontan aus der Situation heraus geholfen wie die Berlinerin, die einer ihr unbekannten schwangeren Jüdin, die sie auf der Straße traf, anbot, sie bei sich aufzunehmen. Diese Frauen und Männer haben sich heldenhaft verhalten. Die meisten von ihnen haben auch später kein Aufheben um ihr Verhalten gemacht. Sie waren ‚stille Helden’. Das ist sympathisch. Wir aber sollten ihnen die Aufmerksamkeit schenken und den Respekt zollen, den sie verdienen; denn wir haben ja allen Grund, auf diese Frauen und Männer stolz zu sein.“ Seit 2005 erinnert ein Straßenname an die „stillen Helden“ Margarete und Fritz Falkenberg.

Abb. 6. Margarete und Fritz Falkenberg. Archiv B. Becker

Der Verfasser dankt Rainer Falkenberg für die wertvolle Unterstützung.