Lehnitz wird 600 Jahre

Von Bodo Becker

Das neue Jahrzehnt nach dem Ende des Krieges begann mit einem Festjahr – dem 600. Jubiläum der namentlichen Ersterwähnung von Lehnitz. Die Gemeindevertretung wollte aus gegebenem Anlass mit politischen und unterhaltsamen Veranstaltungen Abwechslung in den schwierigen Alltag bringen und gleichzeitig die Heimatverbundenheit der Lehnitzer mit ihrem Ort fördern. Zu diesem Zeitpunkt lebte bei einer Einwohnerzahl von 2028 noch nicht einmal jeder zweite Erwachsene länger als siebzehn Jahre in Lehnitz. Zugleich strebten die Organisatoren mit den Feierlichkeiten und dem geplanten Neubau eines Seebades, das hölzerne Seebad im Badeweg war 1947 durch ein Feuer zerstört worden, die Wiederbelebung der Ausstrahlung als Berliner Ausflugsort an. Diesem Ziel entsprach auch das von Leo Einzig gestaltete Festplakat, auf dem eine idyllische Wald- und Häusersilhouette ein romantisches Lehnitzsee-Panorama umrahmt.


Abb. 1. Alle Abb. Archiv B. Becker

Für die unmittelbaren Vorbereitungen hatte sich ein vielköpfiges Festkomitee mit Vertretern aus Kommunalpolitik, örtlichen Vereinen sowie Handel- und Gewerbetreibende konstituiert. Darüber hinaus beschloss die Gemeindevertretung die Bildung eines Ehrenkomitees mit prominenter Besetzung. Dazu gehörten: Friedrich Wolf, Schriftsteller und Kulturpolitiker sowie von 1949 bis 1951 erster Botschafter der DDR in Polen. Paul Baender, Geschäftsführer der staatlichen Handelsorganisation der DDR (besser bekannt unter dem Kürzel HO). Karl Raddatz, ehemaliger Häftling in Sachsenhausen und nun Schriftsteller und Journalist. Ernst Wollweber, Staatssekretär im Ministerium für Verkehrswesen (ab 1953 Staatssekretär bzw. Minister für Staatssicherheit). Und last but not least der niederländische Journalist und Schriftsteller Nico Rost, der bis zu seiner Verhaftung und Ausweisung im Jahre 1933 am Lehnitzer Gutsplatz gewohnt hatte. (Unmittelbar darauf schrieb Rost ein Buch über seine Erlebnisse im Konzentrationslager Oranienburg und machte den Ort des Schreckens damit weltweit bekannt.) 1950 lebte er im brandenburgischen Wiepersdorf, das er ein Jahr später aus politischen Gründen verlassen musste. Bis auf Rost waren alle Mitglieder Lehnitzer Einwohner.

Abb. 2. Programmzettel

Die Veranstaltungsreihe begann mit einer Friedenskundgebung des Ortsfriedens-Komitees am 5. August, dem 5. Jahrestag des ersten Abwurfes einer Atombombe. Derartige Veranstaltungen gehörten zu den politischen Ritualen im Zeitalter des Kalten Krieges. Sie entsprachen aber auch der tiefen Friedenssehnsucht von Menschen, die zu einem großen Teil noch immer unter den Folgen des gerade zu Ende gegangenen mörderischen Krieges litten. Über die Lehnitzer Geschichte konnten sich am nachfolgenden Wochenende alle Interessierten auf einem Heimatabend informieren. Im überfüllten Saal des „Seelöwen“ hielt Karl Raddatz einen Vortrag zur 600-jährigen Ortsgeschichte. Gemeinsam hatten er und Walter Lehwort eine Chronik mit Illustrationen von Schlossermeister Wilhelm Baer (Großvater des späteren Bürgermeisters Gerd Baer) und Architekt Leo Einzig veröffentlicht.

Abb. 3. Deckblatt der veröffentlichten Chronik

Anschließend zeigte der Lehnitzer Maler und Fotograf Otto Knauss mit einem farbigen Lichtbildervortrag die Veränderungen der letzten dreißig Jahre auf. Die Nutzung des Saales war nur möglich geworden, weil die Mitglieder des Lehnitzer Männerchores ihn an den vorausgehenden Wochenenden instandgesetzt hatten. Höhepunkt der Feierlichkeiten war ein Volksfest am Sonntag, dem 20. August, an unterschiedlichen Plätzen im Ort. Eine öffentliche Festssitzung der Gemeindevertretung in Anwesenheit vieler Gäste und des Ehrenkomitees leitete den Tag ein. Alfred Lachmann, Vorsitzender der Gemeindevertretung, formulierte in seiner Festrede die politische Verpflichtung, „für die Einheit unseres Vaterlandes und für den Gedanken des Friedens zu kämpfen.“ Im kommunalpolitischen Teil seiner Rede verwies er auf die Notwendigkeit der Einrichtung einer Fähre über den Oder-Havel-Kanal (die Straßenbrücke war zerstört) und der Schaffung eines Seebades im Rahmen des Fünfjahrplanes. Zur gleichen Zeit fanden ein Blaskonzert auf dem Gutsplatz und Sportwettkämpfe statt. Um 14.00 Uhr formierte sich am Gutsplatz ein Festzug mit historischen Bildern der letzten 100 Jahre. Unter der Überschrift „Lehnitz wird Strandbad“ berichtete die Berliner Zeitung in ihrer Ausgabe vom 23. August über das Geschehen:

„Einen Höhepunkt des Lehnitzer Volksfestes bildete der große Festzug. Der Nachtwächter fehlte ebenso wenig wie Minna in riesiger Schute mit Hundewagen, wie sie vor 50 Jahren den Lehnitzern die Brötchen zum Frühstück brachte. Eine altertümliche Postkutsche, Fischer und Waldgeister zogen in bunter Folge vorüber. Es gab viel Beifall und viel Freude in Lehnitz. Wie mitgeteilt wurde, soll in Kürze mit dem Bau eines Sportplatzes, eines Strandbades und eines Bootshauses begonnen werden. Alles wird den Berlinern einen Aufenthalt in ihrem beliebten Ausflugsort noch angenehmer machen.“ (Auf den Sportplatz mussten die FreizeitsportlerInnen noch Jahrzehnte warten; Strandbad und Bootshaus blieben unerfüllte Träume.)

Abb. 4. Ansichtskarte, Aufnahme vor 1939

Angler und Jäger verwiesen auf die schöne Umgebung; eine alte Feuerwehrspritze wurde von den Feuerwehrkameraden mitgeführt und ein Hochzeitspaar in einer alten Kutsche vermittelte Vertrauen in die Zukunft.


Abb. 5. Sommerfrischler und Waldgeister

Ziel des Umzugs war der Festplatz auf dem Gelände des Restaurants „Seelöwen“. Hier gab es zahlreiche Kinderbelustigungen, selbstgebackenen Kuchen, musikalische und gesangliche Darbietungen der zusammengefassten Chöre aus Lehnitz, Borgsdorf und Oranienburg. Gegen Abend zog noch einmal ein Laternenzug durch den Ort, mit Lampions geschmückte Boote erhellten den dunklen Lehnitzsee und ein Tanzvergnügen mit Unterhaltungseinlagen ließ den Festtag erst am nächsten Morgen ausklingen. Für die schulpflichtigen Kinder gab es einen zusätzlichen Höhepunkt im Festjahr. Die seit über einem Jahr wegen notwendiger Instandsetzung der Dachkonstruktion geschlossene Schule konnte mit dem Beginn des neuen Schuljahres mit einer Einweihungsfeier wieder eröffnet werden.