Adelheid und Marie Torhorst – Pädagoginnen, Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen
Von Bodo Becker
Auch nach mehr als 100 Jahren kann man sich dem Charme der beiden abgelichteten jungen Frauen nur schwer entziehen. Sie sind angehende Studentinnen an der Bonner Universität, wo sie in den Jahren des Ersten Weltkrieges Mathematik, Physik und Geografie studierten. Beide beendeten das Studium mit Promotion.
Vor dem Studium in Bonn, 1911. Links: Adelheid. Fotokopie: Archiv B. Becker
Für Adelheid folgte ein Germanistikstudium mit Staatsexamen; Marie setzte ihre Ausbildung mit einem Studium der Betriebs- und Volkswirtschaftlehre fort. Diese damals (und auch heute noch) außergewöhnlichen Bildungskarrieren waren nicht vorbestimmt. Adelheid (geb. 1884) und Marie (geb. 1888) kamen in einer Pfarrerfamilie neben sechs weiteren Geschwistern in Ledde (Westfalen) zur Welt. Eine Erbschaft ermöglichte allen Kindern das Erlangen der Hochschulreife. Der Weltkrieg mit seinen sinnlosen Massensterben und sozialen Nöten beeinflusste die politischen Prägungen der beiden jungen Wissenschaftlerinnen nach 1918 nachhaltig. Adelheid wandte sich zunächst der USPD zu, wechselte dann zur SPD und ging 1931 zur KPD. In dieser Zeit unterrichtete sie als Studienrätin in Essen, engagierte sich gegen Konfessionsschulen und für eine qualifizierte Mädchenbildung. Von 1924 bis 1931 war sie Mitglied im Bund der freien Schulgesellschaften Deutschlands, für den sie ab 1927 als Sekretärin arbeitete. Als kommunistische Politikerin musste Adelheid 1933 in die Niederlande emigrieren, wo sie ab 1940 im Untergrund lebte. Nach der Gründung der DDR 1949 siedelte sie zu ihrer Schwester nach Weimar über. Der berufliche und politische Werdegang von Marie Torhorst hatte sich bis dahin nicht weniger spannend gestaltet. Als Mitglied einer Gruppe religiöser Sozialisten gelang ihr zunächst keine feste Anstellung an einer städtischen Schule. Mit Unterricht an katholischen Mädchenschulen und als Bibliotheksaufsicht an der Bonner Universität bestritt sie ihren Lebensunterhalt. 1923 konnte sie die Leitung von privaten Handelsschulen eines liberalen Frauenvereins in Bremen übernehmen. Die engagierte Lehrerin trat 1928 der SPD bei. Über ihre Schwester bekam sie Kontakt zum Reformgymnasium ‚Karl-Marx-Schule’ in Berlin-Neukölln, an das sie ab 1929 als Studienrätin für Mathematik und Naturwissenschaften wechselte. Das NS-Regime beendete 1933 ihre Lehrtätigkeit. Die Widerständlerin geriet 1943 in das Fadenkreuz der Gestapo und kam in ein Arbeitslager. Nach 1945 trat sie in die KPD/SED ein. M. Torhorst wollte zum demokratischen Neubeginn des Schulwesens beitragen. Bis 1947 konnte sie ihre beruflichen Erfahrungen als Leiterin im Hauptschulamt von Groß-Berlin einbringen. Danach wurde sie erste Ministerin für Volksbildung des Freistaates Thüringen, wo sie 1949 Thomas Mann zu den Goethe-Feierlichkeiten in Weimar begrüßte.
Marie Torhorst begrüßt Thomas Mann. Fotokopie: Archiv B. Becker
Nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt zogen die Schwestern ab 1951 nach Lehnitz. Aktiv beteiligten sich die Pädagoginnen an der Weiterentwicklung des Schulsystems, das mit dem Gesetz von 1959 über die Einrichtung von 10-klassigen Polytechnischen Oberschulen als Pflichtschulen für alle Schüler seine entscheidende Ausprägung fand. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin wirkte M. Torhorst ab 1959 in der Abteilung Auslandspädagogik am damaligen Deutschen Pädagogischen Zentralinstitut (später Akademie der Pädagogischen Wissenschaften). In der knappen Freizeit wendete sie sich zunehmend der Schule in Lehnitz zu. Hier sah sie gewissermaßen das Versuchsfeld für die praktische Erprobung ihrer Ideen bei der Gestaltung von Unterrichtsfächern. So ließ sie sich zur Vorbereitung auf eine Werkunterricht-Stunde vom Hausmeister der Schule die von ihm gesammelten Fundsachen zeigen. Als Anschauungsobjekt findet sich ein Handschuh mit eingewebten Streifen. Beim Werkunterricht in der 3. Klasse erkennen die Schüler schnell, welche Berufe an der Herstellung des Handschuhs beteiligt waren und wie viel Mühe für seine Anfertigung aufgewendet werden musste. Mit einer 10. Klasse machte sie sich über den polytechnischen Unterricht im damaligen Zählerreparaturwerk Oranienburg vertraut. Ab den 1960er Jahren lernten hier die Lehnitzer Schüler der 7. Klasse aus eigenem Erleben zum ersten Mal produktive Arbeit in einem Betrieb kennen. In den Sitzungen des Pädagogischen Rates der Schule erfuhr M. Torhorst von den Problemen bei der praktischen Umsetzung der staatlichen Schulpolitik. Die Lehnitzer Jugendweihe-Teilnehmer konnten die erfahrene Wissenschaftlerin in den vorbereitenden Jugendweihestunden erleben. Hier forderte sie die Schüler auf, auch Fragen an sie zu richten, die nicht zum geplanten Thema gehören. So entwickelte sich in einigen Veranstaltungen ein Diskussionsklima, das der Pädagogin Torhorst besonders gefiel. In einer solchen Jugendweihestunde musste sie jedoch eine Erfahrung machen, über die sie in ihren Erinnerungen mit folgenden Sätzen berichtete: „Um so betretener war ich, als die beiden Klassenleiter – sie hatten mit ihren 8. Klassen teilgenommen – ihr Erstaunen über das lebhafte Frage- und Antwortspiel äußerten und meinten, sie könnten sich das in ihrem Unterricht nicht erlauben, denn die Erfüllung des Lehrplans ließe ihnen dafür keine Zeit. Ich bezweifelte das, und schon gar nicht konnte ich mich mit Meinungen von Schülern abfinden, dass schlechte Zensuren erhält, wer viel fragt.“ Als Marie Torhorst 1989 mehr als 20 Jahre nach ihrer Schwester starb, stiftete sie aus dem Vermächtnis Geld für die Anlage der Kriegsgräber auf dem Lehnitzer Friedhof, wo beide ihre letzte Ruhe fanden. Adelheid und Marie Torhorst stehen eindrucksvoll für weibliche Emanzipation, wissenschaftliches Wirken und politische Tragik des vergangenen Jahrhunderts. Die Oranienburger Torhorst-Gesamtschule ist nach ihnen benannt. Leider informiert die Webseite der Schule nicht über das Leben der beiden Namensgeberinnen.
Besuch vom Lehnitzer Kindergarten zum 94. Geburtstag, 1982, Fotokopie: Archiv B. Becker