Der Novemberpogrom 1938 – das Ende des Jüdischen Erholungsheims Lehnitz
Von Bodo Becker
Die Abbildung führt uns zunächst an den Anfang des 20. Jahrhunderts. Der vorliegende Band einer Gesamtausgabe von Goethe (Erscheinungsjahr 1869) stand in der Hausbibliothek des im Jahre 1900 eröffneten Jüdischen Genesungsheims Lehnitz (ab 1934 Erholungsheim), wie der Eigentumsstempel nachweist. Die Gäste und Angestellten des Hauses vertrieben sich gerne die Zeit mit Lesen. Werke von Goethe, Schiller und Lessing gehörten selbstverständlich zum Unterrichtsstoff der Hauswirtschaftsschülerinnen. Das Buch selbst ist zugleich das Zeugnis einer dramatischen Geschichte.
Abb. 1. Goethe-Ausgabe mit Eigentumsstempel 1900. Alle Bilder Archiv B. Becker
Sie beginnt in den 1990er Jahre mit einer älteren Dame aus Lehnitz, die mich darüber informierte, dass sich in ihrem Besitz mehrere Bücher aus dem „Jüdischen Heim“ befinden. Auf meine Frage, wie sie zu diesen gekommen wäre, erzählte sie mir folgenden Hergang. Am 9. November 1938 hatte sich ihr Vater beruflich im Jüdischen Erholungsheim aufgehalten und ist dabei Zeuge der schrecklichen Geschehnisse in der Pogromnacht geworden. Noch ganz unter dem Eindruck der erlebten Zerstörungen berichtete er seiner Familie davon. „Ein Trupp SA-Leute aus Lehnitz und Oranienburg verschaffte sich mit Gewalt Zugang zum Gebäude. Alles Erreichbare wurde zertreten, zerschlagen und zertrümmert. Aus den großen geöffneten Fenstern flogen die gesamte Bibliothek, Regale und Schränke. Das fachgerecht angelegte Feuer sollte nun alles vernichten. Der Trupp zog ab – Auftrag erfüllt. Die noch verbliebenen Angestellten des Hauses kamen aus ihren Verstecken, packten noch Vorhandenes zusammen. Mein Vater und der Hausmeister halfen ihnen und brachten sie dann über Waldwege und Nebenstraßen zum Bahnhof. Berlin war informiert. Da die Angst bestand, es könnte ein Flächenbrand werden, halfen die Nachbarn.“ Soweit die Wiedergabe der älteren Dame.
Abb. 2. Fröhliche Hauswirtschaftsschülerinnen des Jahres 1938
Der Erlebnisbericht einer Hauswirtschaftsschülerin schildert die Vorgänge aus der Sicht der Hausbewohner. „Von der Heimleitung wurden wir aus dem Schlaf gerissen und mussten heimlich und unbemerkt aus dem Haus flüchten, unsere persönlichen Sachen zurücklassend. Bei der Polizeikontrolle am S-Bahnhof Lehnitz, wo wir mit einem Lastauto gebracht wurden, durften wir nicht auffallen. Unsere Handtaschen wurden trotzdem gründlich durchsucht, es hätten ja Bomben darin sein können! Für uns Kinder war es ein schreckliches Erlebnis – wir hörten nur, die Nazis wollen das Haus stürmen.“
Enthemmte Rassisten in Uniform tobten sich im Inneren des Hauses aus. Dabei hatten sie es besonders auf die religiöse Einrichtung und Kulturgüter, wie die Bibliothek und den Betraum im Keller, abgesehen. So landeten auch die Bücher auf dem Scheiterhaufen. Der besagte Goethe-Band gehört zu den wenigen geretteten Werken. Noch Anfang Dezember forderte man den ‚Judenknecht‘ im Briesetal-Boten auf, ebenfalls seine Koffer zu packen. Wenn auch die regionale Presse weisungsgemäß von „erregten Volksgenossen“ schrieb, so wollte man die daran Beteiligten doch nicht als Plünderer und Zerstörer erscheinen lassen. Entsprechend zitierte der Briesetal-Bote den Lehnitzer NSDAP-Führer mit Warnungen vor „Gerüchtemacherei“ über angebliche Plünderungen und Zerstörungen.
Abb. 3. Briesetal-Bote vom 11. November 1938
Dass es nicht zu irreparablen Schäden an der Einrichtung und dem Gebäude gekommen war, hatte praktische Gründe. Schon lange vor der Schreckensnacht muss man über eine Nutzung nach einer möglichen Schließung des Heimes nachgedacht haben. Der Reichsverband für Deutsche Jugendherbergen stellte bereits am 11. November einen Antrag auf Überlassung. Am 14. Dezember 1938 meldete der Amtsvorsteher in Birkenwerder dem Landrat des Landkreises Niederbarnim die erfolgte Flucht der Heimbewohner am 10. November und die Einstellung des Betriebes. Doch die Pogromnacht brachte nicht nur das Ende der Lehnitzer Einrichtung, sondern leitete auch den dauerhaften Verlust jüdischen Lebens in Lehnitz ein.
Gedacht werden soll an dieser Stelle der Lehnitzer Bürgerinnen und Bürger jüdischer Herkunft, die aus ihrem Heimatland vertrieben oder in den Tod deportiert wurden.
Michael Albin, Kaufmann, Kaiser-Wilhelm-Str. 24
Susanne Behrmann, Angestellte Jüdisches Erholungsheim Lehnitz
Frieda Glücksmann, Leiterin Jüdisches Erholungsheim Lehnitz
Julius Iglick, Tischler, Birkenwerderweg 40 (Stolperstein, Havelkorso 92)
Ernst Lesson, Rentner, Jüdisches Erholungsheim Lehnitz
Leo Manasse, Arbeiter, Jüdisches Erholungsheim Lehnitz
Ellen Poppelauer, Kindergärtnerin, Jüdisches Erholungsheim Lehnitz
Josef Metz, Vertreter, Bismarck-Str. 19
Hirsch Neumann, Schneidermeister, Havelkorso 6
Leo Schmul, Kaufmann, Birkenwerderweg 55
Quelle: Adreßbuch für Oranienburg und Umgegend 1937/38, S. 284
Abb. 4. Verlegt am 30. Juni 2010, Havelkorso 92
Auch in Oranienburg tobte sich der braune Mob gewalttätig gegenüber jüdischen Mitbewohnern und ihren Eigentum, in der Synagoge sowie auf dem Jüdischen Friedhof aus. Allein vom 11. bis 15. November kamen mehr als 6.000 jüdische Bürger aus der Region und darüber hinaus ohne rechtliche Handhabe in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Das NS-Regime deklarierte die von der NSDAP gesteuerten Gewalttaten und Zerstörungen als “berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes”. Die Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung während des Pogroms waren zumeist von eingeschüchterter Reserviertheit, Wegschauen und einem schockierten Schweigen geprägt. So kam es, dass nur wenige Menschen, die nicht der SA oder SS angehörten, sich aktiv an den Zerstörungen und den Brandschatzungen beteiligten. Aber auch nur vereinzelte gaben ihren verfolgten Mitbürgern Schutz vor den Gewaltexzessen der Täter. Weiter zunehmende Entrechtung, öffentliche Diskriminierungen und Schikanen, Zwangsabgaben und “Zwangsarisierungen” sollte die noch verbliebene jüdische Minderheit zur Auswanderung veranlassen. Mit dem Novemberpogrom war die antijüdische Terrorpolitik in eine neue Etappe eingetreten. Sie fand ihren barbarischen Höhepunkt ab Oktober 1941 mit den Deportationen und dem industriell betriebenen Völkermord (Genozid) an sechs Millionen europäischen Juden in den Vernichtungslagern. Ein historisch einzigartiges Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das weder relativiert noch vergessen werden darf.
Abb. 5. Gedenken am 09. November 2018