Lehnitz und der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

NS-Terror in Lehnitz – Entrechtung der parlamentarischen Demokratie. Das Jahr 1933

Von Bodo Becker

Der 27. Januar – an diesem Tag 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee das Vernichtungslager Auschwitz – ist der internationale Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Auch Lehnitz besitzt  mit dem „Denkmal für die Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft“ einen Ort des Gedenkens. Der nachfolgende Beitrag möchte das Schicksal von NS-Opfern in unserem Ort aufzeigen und ihnen, wenn möglich, einen Namen geben. Am Ende stand die Beseitigung der kommunalen Demokratie.

Zerstörung des Verfassungsstaates und Aufhebung der Rechtsstaatlichkeit

Am 30. Januar 1933 beauftragte der greise Reichspräsident Hindenburg den Führer der NSDAP, Adolf Hitler, mit der Regierungsbildung. In der deutschen Geschichte gilt dieses Datum gemeinhin als Beginn der nationalsozialistischen Diktatur, jedoch war die Machtfrage zu diesem Zeitpunkt noch nicht eindeutig zugunsten der NSDAP entschieden. Der staatlich sanktionierte Terror wurde zum charakteristischen Bestandteil des nationalsozialistischen Herrschaftssystems von Beginn an. Am 27. Februar brannte in Berlin das Reichstagsgebäude. Wer das symbolträchtige Gebäude angezündet hat, ist bis heute nicht eindeutig geklärt, jedoch nutzte die Nazi-Regierung die Gunst des Augenblicks. Einen Tag später setzte Hindenburg den Artikel 48 der Weimarer Verfassung in Kraft, der die verfassungsrechtlichen Grundrechte aufhob. Damit beseitigte er die Freiheit der Person, die Unverletzbarkeit der Wohnung, das Post- und Telefongeheimnis, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die Gewährleistung des Eigentums sowie das Vereinigungsrecht. Dazu kam am 21. März eine Heimtücke- und Sondergerichtsverordnung, die eine (Un)Rechtsgrundlage für die Verfolgung von politisch Andersdenkenden lieferte. Mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes durch die nationalsozialistischen und bürgerlichen Reichstags-Abgeordneten drei Tage später (die KPD-Fraktion war inhaftiert, die SPD-Abgeordneten stimmten dagegen) suspendierte der Reichstag scheinbar legal die verfassungsmäßige Gesetzgebung, d.h. die gesetzgebende Gewalt ging faktisch an Adolf Hitler über.

Straßenszene vor dem Gutsplatz um 1934. Archiv B. Becker

Straßenszene vor dem Gutsplatz um 1934. Archiv B. Becker

Willkürliche Verhaftungen in Lehnitz

Eine schon Anfang März durchgeführte Hausdurchsuchung bei dem am Gutsplatz wohnenden niederländischen Journalisten Nico Rost führte angeblich zur Beschlagnahme von „zentnerschweren Propagandamaterialien“ (Briesetal-Bote, 2. 3.) Die Oranienburger SA-Standarte 208 richtete im März an der Berliner Straße das erste Konzentrationslager für die Reichshauptstadt ein. Wie im gesamten Reichsgebiet begannen auch in Lehnitz die willkürlichen Verhaftungen politisch missbilliger Personen. Die Ortspolizei, unterstützt von SA-Hilfspolizisten, lieferte den antifaschistischen Nico Rost wegen „Umgangs mit Juden und Marxisten“ am 21. März in das Konzentrationslager Oranienburg ein. Auf Betreiben eines niederländischen Korrespondenten in Berlin entließ man ihn jedoch am nächsten Tag wieder. Mitte April nahmen ihn Angehörige der SA erneut fest und brachten ihn wiederum in das Konzentrationslager. Im August musste er Deutschland verlassen. Weitere Lehnitzer gerieten in das Fadenkreuz der Nazi-Willkür. Im Briesetal-Boten las sich das am 25. März so: „Die von der Polizei ergriffenen Maßnahmen auf polizeilichem Gebiet haben auch in unserem Ort zu einigen Verhaftungen geführt. So wurden zwei der Sozialdemokratischen Partei angehörende Lehnitzer festgenommen und dem in Oranienburg errichteten Sammellager zugeführt.“

NS-Propaganda im Briesetal-Boten, 1. April 1933. Kopie B. Becker

NS-Propaganda im Briesetal-Boten, 1. April 1933. Kopie B. Becker

Aus der Häftlingskartei konnten die Namen Kurt Schütz (Dianastr. 4, geb. 1901, Haftzeitraum: 21./22.3.; 3.7-16.8.) und Martin Teller (geb. 1905, Haftzeitraum: 23.-27.3.) ermittelt werden. Tödlich endete das Schicksal von Erich Werst. Als Mitglied der republikanischen Wehrorganisation „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ und SPD-Kandidat für die Wahlen hassten ihn die Nazis besonders. Erst zwei Jahre später barg man seine Leiche aus der Havel. In einem Bericht des emigrierten sozialdemokratischen Parteivorstandes in Prag (SOPADE) informierte man über seinen gewaltsamen Tod: „Anfang März wurde der frühere Sozialdemokrat und Reichsbannerführer Werst, Lehnitz bei Oranienburg, durch Kopfschuss getötet.“ (SOPADE, 25.03.1935) Ausreichender Anlass für eine Einlieferung in das Oranienburger Konzentrationslager war der Verdacht (!), „sich an Terrorakten gegenüber der bestehenden Ordnung beteiligt zu haben oder beteiligen zu wollen …“ (Briesetal-Bote, 26.3.) Breit informierte die regionale Presse über die Einrichtung des Konzentrationslagers in Oranienburg. Sein Kommandant, Werner Schäfer, wohnte in Lehnitz. Für eine andere Bevölkerungsgruppe reichte allein die religiöse Herkunft aus, um sie der staatlich sanktionierten Verfolgung auszusetzen. Auf der Straße und in der Presse rief die NSDAP am 1. April zum Boykott jüdischer Geschäfte und Einrichtungen auf.

Veröffentlicht im Briesetal-Boten, 30. März 1933. Kopie B. Becker

Veröffentlicht im Briesetal-Boten, 30. März 1933. Kopie B. Becker

Wie gut die Zusammenarbeit zwischen der neuen Gemeindeverwaltung und dem Konzentrationslager funktionierte, kann man aus der Tatsache ersehen, dass sich immer öfter Häftlinge in Lehnitz unter Bewachung aufhielten. Als billige Arbeitskräfte kamen sie bei Reinigungsarbeiten und im Straßenbau zum Einsatz. Die sichtbare Anwesenheit der Häftlinge blieb vermutlich nicht ohne Wirkung auf das Verhalten der Bevölkerung.

Unterwerfung der kommunalen Selbstverwaltungsorgane

Bei den Kommunalwahlen am 12. März gelang es der örtlichen NSDAP noch nicht, eine Mehrheit der Stimmen auf sich zu vereinen. Sie stellte nur drei von den insgesamt neun Abgeordneten. Zur anberaumten ersten Zusammenkunft der neuen Gemeindevertretung am 29. März fehlten zwei Vertreter des „Vereins für Grundbesitz und Bürgertum“ und der SPD-Abgeordnete. Schon äußerlich wollten die braunen Abgeordneten keine Zweifel darüber aufkommen lassen, welchen Zielen man sich künftig zu unterwerfen hatte. An der Stirnseite des Tagungsraumes prangte eine Hakenkreuzfahne und sie selbst zeigten sich  in ihrer Parteiuniform. Gemeindevorsteher Richard Becker verpflichtete die neuen Mandatsträger mit Handschlag. Die Aushöhlung ihres parlamentarischen Wirkens war von der NS-Regierung bereits beschlossen. Das geschah mit dem „Vorläufigen Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 31. März 1933.

„Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder…“, veröffentlicht am 2. April 1933 im Briesetal-Boten. Kopie B. Becker

„Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder…“, veröffentlicht am 2. April 1933 im Briesetal-Boten. Kopie B. Becker

Die Wiederwahl des Gemeindevorstehers fand dann am 4. Mai einstimmig durch die Gemeindevertretung statt. Schon im Vorfeld hatten sich die beiden Vertreter des „Villen- und Grundbesitzer-Vereins“ der NSDAP-Fraktion angeschlossen, so dass diese die Mehrheitsfraktion bildete. Doch auch der 1924 gewählte und beliebte Gemeindevorsteher geriet schnell in das Schussfeld der ortsansässigen Nazis. Becker hat sich unter anderem mit seinem loyalen Verhalten gegenüber jüdischen Mitbürgern bei den Parteigenossen unbeliebt gemacht. Schwer wog für die braunen Kommunalpolitiker zusätzlich, dass seine erfolgreiche Amtsführung eng mit den demokratischen Verhältnissen der Weimarer Republik verbunden war. Mit Intrigen im Hintergrund, verleumderischen Vorwürfen und Verbreitung von Angst gelang es der NSDAP bis zum Sommer, eine Mehrheit gegen den Gemeindevorsteher zu organisieren. Der einzige SPD-Vertreter im Gemeindeparlament, Alfred Goldschmidt, der Anfang Mai noch mutig gegen das Aufhängen eines Hitler-Bildes unter den wütenden Zwischenrufen der NSDAP-Abgeordneten eingetreten war, gehörte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zu den Abgeordneten. Becker trat am 5. August 1933 von seinem Amt zurück. Mit ihm stellte auch der gewählte Gemeindeschöffe Willy Broistedt sein Amt zur Verfügung. In der Gemeindevertretung saßen jetzt nur noch angepasste Mitläufer und NSDAP-Mitglieder. Das demokratische Handeln der kommunalen Selbstverwaltung in Lehnitz kam damit zum Erliegen.