Lehnitzer Geschichten: Ostern 1959 – ein Spaziergang um den Lehnitzsee Teil II

Ostern 1959 – ein Spaziergang um den Lehnitzsee

Von Bodo Becker

Teil 2. Vom Großschifffahrtsweg im Norden zur „Mausebude“

Ein Waldweg schlängelt sich – immer in Sichtweite zum See – an Eichen, Buchen und Linden unterschiedlichen Alters bis zur Mündung des Großschifffahrtswegs vorbei. Doch bis dahin entdecken die aufmerksamen Beobachter immer neue Ansichten. Von einem Ufervorsprung schauen sie zur noch entfernten Schleusenbrücke und zur davor liegende Kanalmündung. Ein paar Schritte weiter geht man am Rand der Saubucht mit ihren auf der dunklen Wasserfläche gelb und weiß blühenden Seerosen entlang. Ihr Anblick erinnert an eine impressionistische Malvorlage. Den Namen hat die Bucht von der nahen Feuchtwiese erhalten, in der sich das Schwarzwild besonders gerne suhlt. Vor sechzig Jahren lag die Fläche noch unter Wasser. Ostwärts, unmittelbar hinter der Feuchtwiese gelegen, sieht man zwei Erhebungen, die von den Kindern als Rodelberge bezeichnet werden. Es sind angewehte Sicheldünen. Die höchste erreicht 50 Meter über NN und beide gehören zur Dünenlandschaft am Lehnitzsee. Eine weitere Sicheldüne wird an der Mündung vom Großschifffahrtsweg durchschnitten, was man an der fortgesetzten Erhebung auf beiden Seiten deutlich erkennen kann. Nach kurzer Zeit stehen unsere Wanderer auf einem Steg, der über ein Fließ mit Namen Stintgraben führt.

Abb. 1. Der Stintgraben im April 2019. Foto: B. Becker

Der Name erinnert an die Stinte, die noch um 1900 im klaren Fließwasser massenhaft über den Lehnitzsee in die Havel zum Laichen wanderten. Das Wasser kommt aus dem Grabowsee und fließt nun mit quirligen und gurgelnden Geräuschen zwischen den Steinen nur noch wenige Meter bis zur Mündung in die Saubucht. Hier hat das schnell fließende Wasser einen Schwemmkegel geschaffen, der sich langsam in den See vorschiebt. Nun sind es nur noch wenige hundert Meter bis zur Schleusenbrücke. In dem Gelände mit hochgewachsenen Laubbäumen bilden sich auf dem lockeren Waldboden im Frühling gelbe und weiße Teppiche, bestehend aus den Blüten von Buschwindröschen. Von ihrem erreichten Etappenziel aus schauen Lothar und Harry auf die beiden Schleusen Lehnitz I und II des Großschifffahrtsweges.

Abb. 2. Foto aus den 1970er Jahren. Archiv: B. Becker

Die hölzernen Torhälften der kleinen Schleuse öffnen und schließen sich seit 1912 (ab 1989 geschlossen) und das eiserne Hubtor daneben wird seit 1940 betätigt. Sie verlassen die Schleusenbrücke in Richtung Oranienburg und gehen auf dem schmalen Uferweg entlang des Großschifffahrtsweges bis zur Mündung in den Lehnitzsee, der sich hier mit weiten Buchten öffnet. Bei einem Blick zurück erkennt man die abrupt endenden Erhebungen auf beiden Seiten der Wasserstraße. Sie gehören zur schon erwähnten Sicheldüne, die hier durchschnitten wird. Wie ein Riegel hat sie vor dem ehemals geschlossenen See gelegen. Unser Uferweg macht vor dem Erreichen des Kanaleingangs einen scharfen Knick und folgt dem Seebogen. Geht man auf dem Weg zunächst gerade aus, so gelangt man nach wenigen Schritten an eine Uferspitze, von der man einen unverstellten Einblick in den See hat. Hier befand sich bis 1945 eine Anlegestelle für Fahrgastschiffe. Die brachten unter anderem Gäste für das am Wasser liegende Ausflugslokal „Waldhaus“, das man nach hundert Meter von hier erreichte. Geht man nun – wie unsere beiden Ausflügler – den Uferweg entlang, wird keine Gaststätte mehr sichtbar. Nach der Roten Armee werden die noch vorhandenen Gebäude von der Stadt und dem nahen Regiment der Nationale Volksarmee genutzt. Auch der ehemals hier befindliche Anlegesteg ist verschwunden. Nun führt ein mit hohen Bäumen begrenzter, schattiger Uferweg durch die sich lang hinziehende seenahe Landschaft. Ihn hat der „Oranienburger Verschönerungsverein“ 1912 zwischen dem Restaurant „Strandhalle“ und der Liebesinsel als gepflegte Seepromenade angelegt. Die zahlreichen Spaziergänger erfreuen sich an den zu Ostern großflächig blühenden Buschwindröschen und am vielstimmigen Gezwitscher der Vögel. Bald kreuzt eine kleine Holzbrücke über einen Abzugsgraben den Weg. Geht man ein paar Schritte am Grabenrand auf die rechts gelegene Wiese hinauf, so ist man am kleinen Eichwerder entlanggegangen, ohne dass der unbedingt aufgefallen wäre. Wesentlich imposanter erscheint den Betrachtern links davon der große Eichwerder mit seinen alten Eichen. Die hinter den beiden ehemaligen Seeinseln (Werder) zur Stalinallee (Bernauer Straße) hin liegende Wiese war der alte Moddersee, der bereits im 19. Jahrhundert verlandete. Der aufsteigende Straßenhang ist das ursprüngliche Seeufer. Unsere Berliner wandern vorbei an der ehemaligen Liebesinsel und erreichen das Oranienburger Freibad mit seinen neuen Anlagen für die großen und kleinen Wasserfreunde. Ein Steg zum Wasserspringen und eine Wasserrutsche finden großen Zuspruch. Auf der großen Liegewiese spenden mächtige Kronen alter Eichen wohltuenden Schatten für die Badegäste. Die Herkunft des Sandstrandes ist der Aushub des bis 1912 kanalisierten Lehnitzsee.

Abb. 3. „Bootshaus Dietrich“ in den 1960er Jahren. Foto: Archiv B. Becker

Nach städtischen Verboten setzte sich die Freibadanlage bis 1930 endgültig durch. Rechts neben dem Freibad gibt es seit 1956 das „Bootshaus Dietrich“ (heute „Hafenrestaurant LuBea“ und Yachthafen) mit einem kleinen Getränke- und Imbissangebot. Davor beginnt ein befestigter Fußweg. Eine ins Blickfeld kommende Anlegestelle gehört zur traditionsreichen Ausflugsgaststätte „Strandhalle“. Mit ihren beiden Häusern, einem Festsaal, einer Kegelbahn

Abb. 4. Gaststätte „Strandhalle“. Postkarte aus den 1960er Jahren. Archiv: B. Becker

und dem großen Biergarten zieht sie seit siebzig Jahren ihre Gäste an. Der ausbleibende Ausflugsverkehr über das Wasser bereitet nun der großen HO-Gaststätte zunehmende Schwierigkeiten. Ab jetzt ist ein Weitergehen am Seeufer nicht mehr möglich. Über die Heidelberger- bzw. Karlsruher Straße (André-Pican-Straße) laufen unsere Ausflügler in Richtung von zwei schwarzen Qualm ausstoßenden Schornsteinen und immer stärker werdenden fischartigen Geruchs. Die beiden Verursacher – ein Rußwerk und ein Pharmazeutisches Werk – liegen an der Otto-Nuschke-Straße (Lehnitzstraße). Von hier ist es nur noch eine kurze Strecke bis zur Lehnitzer Brücke (1945 gesprengt, wieder erbaut 1956/57) über den Großschifffahrtsweg. Kurz vor dem S-Bahnhof Lehnitz wollen die erschöpften Wanderer im Ausflugslokal „Lindenhof“ von Fritz Lehmann am Gutsplatz (bis in den 1870er Jahren das Gutshaus, danach bis 1945 Restaurant „Lehnitz-See“) noch etwas für ihr leibliches Wohl tun.

Abb. 5. Gaststätte „Lindenhof“. Postkarte aus den 1960er Jahren. Archiv: B. Becker

Gasthaus und Biergarten sind jedoch mit mehrheitlich aus Berlin gekommenen Ausflüglern überfüllt. So überschreiten beide den beschrankten Bahnübergang und kehren in die unmittelbar dahinter liegende „Mausebude“ (eigentlich „Schweizerhaus“) ein. Inmitten einer launigen Feiertagsgesellschaft, vorwiegend aus männlichen Lehnitzern bestehend, können sie sich hier mit Bockwurst und Kartoffelsalat sowie einigen Bieren auf ihre Heimfahrt vorbereiten.

Abb. 6. Die „Mausebude“. Foto aus den 1950er Jahren. Archiv: B. Becker