Lehnitzer Geschichten: Kolonialwaren und Konsum

Originaltitel:
Vom Kolonialwarenladen zur Großraumverkaufsstelle in der Mangelwirtschaft. T. 1

Von Bodo Becker

Immer wieder führen die Lehnitzer Klage darüber, dass es in ihrem Wohnbereich kein Lebensmittelanbieter gibt. Im Verlauf des vorigen Jahrhunderts gab es noch zahlreiche Lebensmittelgeschäfte, deren größtes und letztes von 1990 bis 1995 mit Aldi existierte.

Um 1900 jedoch gab es weder Fleischer noch Bäcker im Ort. Tag für Tag wurde die Backware von Oranienburg mit einem Hundegespann von Minna Selicke geholt. Dabei brachte sie nicht nur das Brot, sondern auch die neuesten Nachrichten und den Dorfklatsch zu den Bewohnern.

Abb. 1. Brottransport von Minna Selicke, um 1900. Archiv B. Becker

Ein vergilbtes Foto aus dem Jahre 1906 ist der erste Nachweis eines so genannten Kolonialwarenladens in Lehnitz. Als Kolonialwaren bezeichnete man überseeische Lebens- und Genussmittel, wie z. B. Zucker, Kaffee, Tabak, Reis, Kakao, Gewürze und Tee. Ein Zeitzeuge berichtet darüber aus den 1920er Jahren: “…neben dem Gasthaus Lehmann (heute griechisches Restaurant) war ein kleines Kolonialwarengeschäft von Richard Kothe, wo es alles gab: Petroleum, Kuchen, Wurst, Brot, Hering und auch Seife, kurz alles, was der Mensch zum Leben braucht. Herr Kothe machte selbst Wurst, die sehr gut schmeckte. Wenn wir Petroleum holten, so ließ uns Frau Kothe die Flasche voll laufen, noch zwei Heringe, vier Stück Kuchen und 1/4 Wurst, alles ohne sich inzwischen die Hände zu waschen. Es schmeckte alles sehr gut, trotz der Petroleumfinger, auch konnte man sonntags hingehen und sich Tabak und Kuchen holen, stets waren beide da und bedienten uns immer zur vollsten Zufriedenheit.”

Abb. 2. Kolonialwarenladen am Gutsplatz. Archiv B. Becker

Abb. 3. Anzeige 1935 im Lehnitzer Adressbuch. Archiv B. Becker

Nach 1918 verbesserte sich die Versorgungslage. Der Kaufmann Friedrich Schlottke versorgte seit den 1930er Jahren in seinem Wohn- und Geschäftshaus an der heutigen Friedrich-Wolf-Str. 82 (damals Kaiser-Wilhelm-Straße) die Lehnitzer mit Lebensmitteln. Mitte der 1960er Jahren wurden hier „Verkaufsautomaten“ aufgestellt, aus denen man Zigaretten und Süßigkeiten ziehen konnte. Helene Conrad betrieb schon seit 1923 ein Lebensmittelgeschäft an der Friedrich-Wolf-Str. 55. In die Familie heiratete der Kaufmann Fritz Schreiber ein, so dass sich das Geschäft spätestens ab 1945 F. & H. Schreiber vorm. Helene Conrad nennt. Noch in den 1950er Jahren konnte man hier Keramiken von Hedwig Bollhagen bestellen und beziehen. Auf dem Nachbargrundstück 53 verkaufte Milch-Marie (so der Volksmund) aus Wensickendorf bis in die ersten Nachkriegsjahre hinein Molkereiwaren.

Weiter in Richtung Bahnhof existierte 1935 an der Friedrich-Wolf-Str. 9 (Ecke Dianastraße) der Gemüseladen von Max Paetsch in einem einfachen Holzhaus. Der neue Ladenbetreiber, August Howe, gab in den Wochen nach Kriegsende Suppe aus der Gulaschkanone an die hungernde Bevölkerung aus. Das verarbeitete Trockengemüse stammte aus den Beständen des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Für den Erhalt der Portionen musste man von der Gemeindeverwaltung Marken kaufen. Bis zur Schließung der Verkaufsstelle befanden sich Gemüse, Getränke und Pflanzen im Angebot.

Abb. 4. Gemüseverkaufsstelle von A. Howe, Leerstand 1979. Archiv B. Becker

Im September 1980 eröffnete Klaus Buttler hier sein Café dirgni, das mit Getränken, einem einfachen Imbiss und Softeis bis zu seiner Schließung 1990 großen Zuspruch besaß.

Abb. 5 u. 6. Anzeige in der Festschrift „600 Jahre Lehnitz“, 1950. Archiv B. Becker

Da, wo sich heute die Zahnarztpraxis Am Lehnitzsee befindet, stand ein zweistöckiges Geschäfts- und Wohnhaus. Bereits seit 1934 hatte der Fleischer und Viehhändler Paul Clemens in der rechten Haushälfte hier seine Fleischerei. Im Juni 1945 beauftragte ihn die Gemeindeverwaltung, aus dem Kreis Ruppin Schlachtvieh zu beschaffen. Älteren Lehnitzern ist sein Nachfolger, Hans Hartwig, noch gut in Erinnerung. Auch beim Fleisch- und Wurstverkauf gab es zu DDR-Zeiten besonders begehrte Produkte, die zu vollen Läden mit langen Wartezeiten für die Kundschaft führten. Hier eine kleine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Kochschinken oder roher Schinken, Salami, Wiener Würstchen, Rindfleisch, Kassler oder Leber. Für die sommerlichen Grillabende wurden Kammscheiben und Bratwürste zu einer echten Bestellware mit Vitamin „B“ (Beziehungen).

Abb. 6