Frieda Glücksmann und das ‚Jüdische Erholungsheim Lehnitz’. Teil 2

„In einem Heim, wie dem Lehnitzer zu sein, ist nicht nur eine leibliche Wohltat…“ Frieda Glücksmann und das ‚Jüdische Erholungsheim Lehnitz’. Teil 2

Von Bodo Becker

Das Tagungszentrum

Lehnitz als Tagungsort machte die Einrichtung über die Region hinaus bekannt. Viele jüdische Gruppen und vor allem die zentralen Organisationen hielten hier ihre Tagungen ab. Zu den Teilnehmern gehörten auch Persönlichkeiten, die im Überlebenskampf des deutschen Judentums eine herausragende Rolle spielten. Der Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) und der Pädagoge Ernst Simon (1899-1988) legten die inhaltlichen und organisatorischen Grundlagen für eine Erwachsenenbildung unter der nationalsozialistischen Bedrohung. Ernst Simon beschreibt die vorherrschende Stimmung auf einer Tagung, die vom 1. bis 8. Juli 1934 unter der Leitung von Martin Buber stattfand, folgendermaßen:

“Bei Oranienburg! Dies war ein Name, der später die schreckliche Assoziation eines der berüchtigten Konzentrationslager erweckte. Als wir in Lehnitz in durchaus heiterer Stimmung zusammen waren, ahnten wir noch nichts von dieser Nachbarschaft. Wir fühlten zwar den Druck der Krise, hatten aber noch keine wirkliche Vorstellung weder von ihrer Dauer noch von ihrer voraussichtlichen Schärfe.”

Abb. 1. M. Buber u. E. Simon (links) bei einem Bibelvortrag in Lehnitz, 1934. Archiv B. Becker

Auf einer Gesamtvorstandssitzung des Jüdischen Frauenbundes (JFB) vom 18.-21. Februar 1937 begrüßte unter anderem Leo Baeck (1873-1956), der Präsident der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, die Anwesenden. Die Tagungsthemen widerspiegelten in ihrer Gesamtheit die Aufgaben, vor denen das deutsche Judentum bis 1938 stand: Jugendarbeit und -fürsorge, praktische und theoretische Vorbereitungen auf eine mögliche Auswanderung, Berufsbildung, Erwachsenen- und Lehrerfortbildung sowie die Sozial- und Wohlfahrtspflege. Beispielhaft soll an dieser Stelle auf eine Tagung näher eingegangen werden, weil sie ihrer Thematik wegen bewusst nach Lehnitz einberufen worden war . Auch als Anerkennung für die geleistete Arbeit auf diesem Gebiet fand vom 7. bis 9. Januar 1937 eine “Fachtagung für hauswirtschaftliche Ausbildung” statt. Die nur weiblichen Teilnehmer waren Vertreterinnen des JFB, Mitarbeiterinnen der Reichsvertretung und ihrer örtlichen Beratungsstellen, denen die Planung der Ausbildung oblag. Die Tagungsleitung hatten abwechselnd die beiden Vorsitzenden des JFB, Ottilie Schönwald (1883-1961) und Cora Berliner (1898-1942), inne. Hannah Karminski (1897-1942) veröffentlichte zwei Tagungsberichte, die uns einen Einblick in das Tagungsgeschehen erlauben. Einleitend beschrieb die Berichterstatterin zustimmend die Lehnitzer Ausbildungsverhältnisse mit ihrer Verknüpfung von theoretischer Bildung mit praktischer Ausbildung und Tätigkeit der Schülerinnen für die umfassende Gästebetreuung. Zu den Vortragenden gehörte auch Frieda Glücksmann, die über die “Organisation der täglichen Arbeit” mit der Forderung nach Mitgestaltung und Mitverantwortung aller Beteiligten – Lehrer wie Schüler – referierte.

Abb. 2. Stundenplan für die Hauswirtschaftsschülerinnen. Archiv B. Becker

Ausbilder und Lehrer erteilten sogenannte “Lehrproben”. Erwin Zimet, der Rabbiner des Hauses, unterrichtete zur biblischen Geschichte. Besonderen Eindruck muss er jedoch bei der Gestaltung der Freitagabend-Feier, des Schabbat-Ausgangs und des Abschlusses eines jeden Tages hervorgerufen haben, denn die Teilnehmer wünschten jedem Heim einen solchen Lehrer wie in Lehnitz, der in der Lage wäre, der Jugend “die Freude am Singen und den Sinn für wirkliche Musikpflege zu vermitteln.” Die Tagungsleitung sah es als eine besondere Aufgabe, ständig die Verbindung mit dem schwierigen Alltag herzustellen, die durch die Isoliertheit der Heime leicht verloren gehen könnte. Auch die vorgefundenen Lehnitzer Verhältnisse müssen diese Tendenz in sich getragen haben, denn der empfundene Inselcharakter wird im Schlusssatz des Berichtes deutlich: “Aber bei aller Sachlichkeit lag über den drei Lehnitzer Tagen doch eine ganz besondere unsachliche Stimmung. Die behaglich-schöne Unterkunft, das Beisammensein mit Arbeitsgefährten und froher Jugend, das Losgelöst sein vom Alltag, der in Raureif prangende winterliche Wald – alles trug dazu bei, sie zu einer wirklichen Freizeit werden zu lassen.”

Antisemitischer Terror und Schließung des Hauses

Im Sommer 1935 inszenierten die ortsansässigen Nazis eine terroristische Kampagne gegen das Erholungsheim und die in ihren Augen im Ort wohnenden Sympathisanten. Anfang Juni 1935 ließen Schüsse in unmittelbarer Nähe die Heimbewohner aufschrecken. Da sich zum Zeitpunkt nur Kranke und Kinder im Haus befanden, bat Frieda Glücksmann bei der Polizeibehörde Birkenwerder um Schutz vor Übergriffen. Statt Schutz zu gewährleisten, wurde den Heimbewohnern mit einer Anordnung die Bewegungsfreiheit auf dem Heimgelände und im Ort weitestgehend eingeschränkt. Besuchsverbote an den Wochenenden, Badeverbote und ein Verbot, die Kaiser-Wilhelm-Straße (Friedrich-Wolf-Straße) zum Bahnhof zu betreten, gehörten zum polizeilichen Verbots-Katalog, der mit dem Lehnitzer NSDAP-Ortsgruppenleiter abgestimmt war. Um möglichen Konfrontationen mit den Behörden zu umgehen, ließ die Heimleitung entsprechende Verhaltensregeln in den Zimmern aufhängen und informierte auch die jüdischen Gäste im Ort darüber.

Abb. 3. Verhaltensregeln für die Insassen und Gäste des Hauses, 1935. Archiv B. Becker

Doch die aufgezeigten Vorfälle und schikanösen Behinderungen waren erst der Anfang. Neben antisemitischen Aushängen wurden gleichlautende Aufschriften an Bäumen und Zäunen angebracht. Damit wollte man eine antijüdische Stimmung unter der Bevölkerung schüren. Am frühen Abend des 17. Juni versetzte ein Trupp SA-Leute mit antijüdischen Rufen vor dem Heim die Insassen in Angst und Schrecken, so dass wiederum die Polizei alarmiert wurde. Der gerufene Beamte konnte angeblich nur noch ein Trupp Radfahrer ausmachen und sah sich mit zwei höheren SS-Führern konfrontiert, die seine Anwesenheit als „Schutz für Juden“ bezeichneten und darüber die Gestapo in Kenntnis setzen wollten.

Im August kam es wieder zu antijüdischen Aufmärschen vor dem Heim. Eine Angestellte aus Lehnitz, die sich im Heim aufhielt, wendete sich mit lautem Widerspruch aus einem Fenster gegen die Radaumacher. Schmierereien auf der Straße vor den Häusern, die jüdische Gäste beherbergten, veranlassten einen Hausbesitzer einen Brief an die Staatspolizeistelle in Potsdam zu schreiben. Aus dem Inhalt kann man die ambivalente Haltung der Lehnitzer Bevölkerung zu den Vorgängen erkennen: „Es gibt viele Menschen, die das empörend finden und wieder andere, die uns die Fenster einschlagen und uns totschlagen wollen.“ Die gewalttätigen Übergriffe und antisemitischen Hetztiraden hatten bei den Betroffenen Bestürzung und Angst hervorgerufen, so dass sich Frieda Glücksmann veranlasst sah, selbst für ihre Schülerinnen Auswanderungs- und Ausbildungsmöglichkeiten zu erschließen. Mit Beginn des Jahres 1936 reiste sie gemeinsam mit Susanne Behrmann über Rom nach Palästina. Hier besuchten sie mehrere Schulen, unter anderem in Tel Aviv die Schule der Women’s International Zionist Organisation (WIZO).

Abb. 4. Glückwünsche der Women’s International Zionist Organisation (WIZO). Archiv B. Becker

Über den Erfolg ihrer Reise wissen wir nichts. Ob sie zu diesem Zeitpunkt bereits selber konkrete Pläne für eine Auswanderung besaß, bleibt ebenfalls im Dunkeln. Ihre Haltung zum praktischen Zionismus klang aber in einem ihrer Rundbriefe an, als sie über eine Lehnitzer Tagung der ‚Zionistischen Vereinigung für Deutschland’ im Oktober 1937 berichtete: “Ich hatte das Gefühl, dass dieses dritte Seminar ein Höhepunkt war in unserer bescheidenen Geschichte, den man bewusst erlebt. Das Inselhafte von Lehnitz, alles Menschen mit einer gleichen Weltanschauung, mit einem gleichen Ziel, mit der Sehnsucht nach dem Judenstaat, und der Angst, wie erfüllt er sich. Dazu ein traumhaft schöner Herbst, Sonne, blauer Himmel und eine Buntheit der Bäume, wie ich sie kaum je erlebt habe.”

Abb. 5. Lehnitzer und Oranienburger Täter. Archiv B. Becker

Der von den Nazis inszenierte Pogrom in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 leitete das Ende der Lehnitzer Einrichtung und damit des jüdischen Lebens in Lehnitz ein. Zwar entdeckt der heutige Besucher keine Spuren des Vandalismus am Haus, jedoch tobte sich der nazistische Ungeist im Inneren des Hauses aus. Eine Lehnitzer Zeitzeugin berichtet über diese Schreckensnacht: “Alles Erreichbare wurde zertreten, zerschlagen und zertrümmert. Aus den großen geöffneten Fenstern flogen die gesamte Bibliothek, Regale und Schränke. Das fachgerecht angelegte Feuer sollte nun alles vernichten. Der Trupp zog ab – Auftrag erfüllt. Die Insassen des Hauses kamen aus ihren Verstecken, packten noch Vorhandenes zusammen. Mein Vater und der Hausmeister halfen ihnen und brachten sie dann über Waldwege und Nebenstraßen zum Bahnhof. Berlin war informiert. Da die Angst bestand, es könnte ein Flächenbrand werden, halfen die Nachbarn.” Am 14. Dezember 1938 meldete der Amtsvorsteher in Birkenwerder dem Landrat des Landkreises Niederbarnim die erfolgte Flucht der Heimbewohner am 10. November und die Einstellung des Betriebes.

Emigration nach Großbritannien

Frieda Glücksmann blieb es erspart, die Vernichtung ihres Lebenswerkes in Lehnitz persönlich erleben zu müssen. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich in den USA, wo sie im Auftrag der ‚Reichsvertretung’ Bürgschaften für ihre Schülerinnen sammelte und Möglichkeiten eines persönlichen Neuanfangs erkundete. Im September war sie mit ihren Kindern nach Großbritannien ausgereist. Vor ihrer Überfahrt in die USA schrieb sie am 3. Oktober aus London folgende Sätze an die noch in Lehnitz verbliebenen Angestellten:

Ich schreibe diesen Brief gegen mein eigenes Interesse – denn das ist allein der Gedanke, Lehnitz zu erhalten. Ihr wisst, dass mein Herz an Lehnitz hängt, dass es mit Lehnitz vibriert, dass es mein eigenes Kind ist – dieses Lehnitz ist mir nun genommen, ohne dass meine Kraft, es zu lieben, erschöpft ist. Was auch immer im Leben kommt, es wird nicht das sein, wonach ich mich sehne, nicht Lehnitz, das in die schwere Zeit hinein geboren, soviel Schönheit und Lebenswillen geben konnte.“

Abb. 6. Frieda Glücksmann, um 1935. Archiv B. Becker

In dem Brief, der ein Abschiedsbrief an Deutschland war, forderte sie die ‚Lehnitzer’ auf, es ihr gleich zu tun und „den schweren Weg der Emigration zu gehen.“ Dafür sicherte sie allen ihre selbstlose Hilfe zu. Mit den Worten – „Meine Lieben weit verstreut!“ – wandte sich Frieda Glücksmann Ende Dezember 1938 vom Bord der ‚Normandie’ bei ihrer Überfahrt von New York nach London noch einmal an die zurückgebliebenen ‚Lehnitzer’. Nach einer ausführlichen Schilderung des Alltags in den USA formulierte sie die künftige Lebensmaxime für die vor ihr liegende unsichere Zukunft: „Etwas hat mich doch diese Reise gelehrt: es gibt immer eine Sache, für die man kämpfen kann, die Sache des Lebens selbst!“ Am 31. Dezember 1938 betrat Frieda Glücksmann wieder englischen Boden. Mit der ihr eigenen Tatkraft stellte sie sich den schweren Lebensbedingungen der Emigration. Bis zum Ausbruch des Krieges unterstützte sie zunächst die Emigration ehemaliger ‚Lehnitzer’, Freunde und Bekannte aus Deutschland. Es gelang ihr, Susanne Behrmann ebenfalls nach Großbritannien zu holen. Das erfolgreiche Wirken in Deutschland sorgte dafür, dass sie auch in Großbritannien verantwortungsvolle Aufgaben übertragen bekam. Bereits im Februar 1939 übernahm sie die Leitung eines Heimes (Dr. Schlesinger’s Hostel) für deutsche Flüchtlingskinder in Shepherds Hill in London-Highgate. Frieda Glücksmann nannte ihre neue Wirkungsstätte „Klein-Lehnitz“. Mit Beginn des Krieges musste das Haus schließen. Das ‚Bloomsbury House’, eine Organisation für die Unterstützung jüdischer Emigranten in Großbritannien, übertrug Frieda Glücksmann bis 1946 die Führung einer Hilfseinrichtung für Flüchtlingsfrauen und –mädchen aus Deutschland. Für die annähernd 100 Bewohnerinnen praktizierte sie die schon in Lehnitz erfolgreiche Verbindung von hauswirtschaftlicher Ausbildung und Sozialarbeit. Daneben führte sie ab 1941 ein so genanntes Hot Pot British Restaurant. Hier wurden Arbeiter und Kriegsversehrte versorgt. Ihre letzte berufliche Aufgabe war die Leitung des Southbourne Hotels an der Küste, in der Nähe von Bournemouth gelegen. Am 7. September 1971 starb Frieda Glücksmann.

Abb. 7. Ernst Glücksmann in Lehnitz, 1972. Archiv B. Becker

Menschen wie Frieda Glücksmann und ihren Helfern ist es zu verdanken, dass der Name Lehnitz im dunkelsten Abschnitt deutscher Geschichte als Zeichen für Humanismus und Solidarität steht. Seit 1988 erinnert ein Gedenkstein vor dem Haus in Lehnitz an die ursprüngliche Bestimmung und das Schicksal der Bewohner. Begleitet von einer Ausstellung zur Geschichte des „Jüdischen Erholungsheimes Lehnitz“ erhielt die frühere Lessing-Straße in Anwesenheit der Familie von Frieda Glücksmann am 1. Oktober 2005 ihren Namen. Am 8. November 2011 wurde im Rahmen des Projekts „Frauenorte im Land Brandenburg“ die 14. Tafel für Frieda Glücksmann am Rondell in Lehnitz enthüllt.

Abb. 8. Familie Glücksmann in Lehnitz, 1. Oktober 2005. Archiv B. Becker

Buchveröffentlichung

Becker, Bodo: Das „Jüdische Erholungsheim Lehnitz“. – Berlin: Hentrich & Hentrich, 2013. – 79 S. : Ill. – (Jüdische Miniaturen ; Bd. 130)