Vor 30 Jahren: Die ersten freien Kommunalwahlen in Lehnitz

Vor 30 Jahren: Die ersten freien Kommunalwahlen in Lehnitz
Von Bodo Becker

Als am 18. November 1989 der vom „Neuen Forum Oranienburg“ organisierte Protestzug mit rund 2000 Demonstrierenden durch die Oranienburger Innenstadt zog, da trugen seine Organisatoren ein Spruchband mit der aktuellen Forderung: Demokratie – jetzt oder nie! Weitere Transparente zeigten mit politischem Instinkt die Voraussetzung und den Zeitraum für die Verwirklichung: Freie und geheime Wahlen im Frühjahr 1990!

Demonstration am 18. November 1989

Der Verlauf der friedlichen Revolution sollte ihnen Recht geben, denn die letzten Monate der DDR brachten die ersten freien Wahlen. Zunächst die Wahlen zur Volkskammer am 18. März, es folgten die Kommunalwahlen am 6. Mai. In kurzer Zeit mussten wir alle einen Schnellkurs in praktischer Demokratie durchlaufen. Dass den unerfahrenen Akteuren angesichts der komplizierten Verhältnisse dabei auch Fehler unterliefen, konnte man in Lehnitz beobachten. Hier stellte sich am 26. Januar ein provisorischer SPD-Ortsvorstand unter dem Slogan „Es ist geschafft“ vor. Der Verlauf der Veranstaltung hinterließ daran jedoch berechtigte Zweifel. Keiner der Initiatoren besaß die SPD-Mitgliedschaft. Großen Schaden richteten sie in der geführten Diskussion an, die einige als „Schwätzer, Besserwisser und Verleumder“ erschienen ließ. (MV-Bericht vom 02. Januar 1990) Trotz dieses Desasters gelang den verbliebenen Mitgliedern ein Neustart. Der Ortsverein, nun unter der Führung von Karl-Heinz Pohle (+2000) mit ca. 20 Aktiven, lud zu Veranstaltungen ein, stellte Info-Stände auf und verteilte ausgearbeitete Materialien. Mit Kindermalecke, Kaffee und Kuchen gab es Anfang März einen Familiennachmittag im Kulturhaus, der gezielt auf Probleme und Wünsche der Eltern einging. Für die Kommunalwahlen beschrieb man mit idealisierendem Blick auf vergangene Jahrzehnte als erstrebenswertes Ziel „einen touristisch attraktiven und ökologisch sauberen Ort mit einer hohen Wohnqualität“.

Info-Materialien der Lehnitzer SPD im April 1990

Als sich am 3. Mai die 16 SPD-Kandidaten für die Gemeindevertretung und den Kreistag vorstellten, da widerspiegelten ihre Forderungen die Versäumnisse vergangener sozialistischer Kommunalpolitik: Modernisierung der örtlichen Infrastruktur in den Bereichen Energie, Verkehr, Frisch- und Abwasser; Sanierung der Altbausubstanz und sozialer Wohnungsbau; Aufbau touristischer und gastronomischer Strukturen mit dem notwendigem Umweltschutz; Reduzierung des Verkehrs, der Lärmbelästigung und der Umweltbelastungen; Beseitigung des Schießplatzes und Nutzung der Armeeanlagen für ein Sport-, Kultur-, Freizeit- und Jugendzentrum. Kommen wir zu der Partei, die sich mit neuem Namen und demokratischem Politikstil von ihrer ungeliebten Erblasserin SED abgrenzen wollte – der PDS. Aus einem Wahl-Flyer der PDS mit später Einsicht:

Mit einer eher schlichten Wahlwerbung versuchten die zehn Kandidaten mit der Spitzenkandidatin Marianne Zoll (+2004) das ihnen noch politisch nahe stehende Wählermilieu zu erreichen. Fünf Arbeitsthemen zeigte man auf: Stärkung der demokratischen Selbstverwaltung; Ortsgestaltung und Förderung mittelständischen Gewerbes; Ordnung und Sicherheit; Erhaltung und Ausbau der sozialen, medizinischen und kulturellen Einrichtungen; Regelung des Eigentumsrechts für „Westgrundstücke“ im Interesse der Nutzer mit Entschädigung der Eigentümer. Die „offene Eigentumsfrage“ hatte bei vielen Lehnitzern große soziale Ängste hervorgerufen. Der CDU war es als ehemalige DDR-Blockpartei vor der Volkskammerwahl taktisch klug gelungen, sich in einem Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ mit den neuen Parteien „Deutsche Soziale Union“ und „Demokratischer Aufbruch“ als „geläuterte“ demokratische Partei zu gerieren.

Annonce im OGA vom 3. Mai

In Lehnitz traten die sechs Kandidaten der „Allianz“ als nahezu homogene Gruppe an. Drei Ärzte, Dr. Horst Roderburg als Spitzenkandidat, zwei Unternehmer und eine Chemikerin versprachen Kompetenz, was sich jedoch nicht bewahrheiten sollte. (Bis 1993 verließen nacheinander alle Abgeordnete der „Allianz“ das Gemeindeparlament.) Wenden wir uns einer basisdemokratischen Gruppierung zu, die als konsequente Interessenvertretung der Bürger ohne politische Parteienorientierung antrat: U.B.L.= Unabhängige Bürgerinitiative Lehnitz. Hervorgegangen war sie aus regelmäßigen Treffen im evangelischen Gemeindehaus. Im Mittelpunkt stand die kommunale Selbstverwaltung als Chance für die Bürger, die Probleme des Ortes in kreativer und konstruktiver Eigenverantwortung zu lösen: Erarbeitung einer ökologisch verträglichen Abwasserkonzeption; Gestaltung der Uferzone des Lehnitzsees unter Berücksichtigung des Naturschutzes; Schaffung eines Fußgänger- und Radfahrer-freundlichen Ortes; Einrichtung von Parkplätzen mit Vermeidung von Umweltbelastungen; Verbesserung der Möglichkeiten für den Freizeitsport; Bedingungen für einen umweltverträglichen Tourismus; Abbau unnötiger Luftemissionen, z.B. Verbot der Laubverbrennung und aufzeigen alternativer Entsorgungsangebote; vollständige Einstellung des NVA-Schießplatzes.

Aufruf zur Mitarbeit!

„Die U.B.L. ist grün – für Lehnitz ist das wichtig, denn die Erhaltung unserer natürlichen Umwelt ist Voraussetzung für den Schutz des hier typischen Lebensraumes“, teilten die fünf Kandidaten den Zuhörern auf einem Bürgerforum am 2. Mai im Lehnitzer Kulturhaus mit. Betrachtet man alle Wahlaussagen im Überblick, so stellt man nicht wenige Übereinstimmungen fest. Für Lehnitz gab es nur drei Tage vor dem Wahltag noch eine aufregende Entdeckung. Buchstäblich in letzter Minute mussten alle Wahlzettel neu gedruckt werden, weil die Kandidaten nicht in der gewünschten Folge aufgeführt waren. Das Wahlergebnis brachte mit jeweils sechs Abgeordneten für „Allianz“ und SPD zwei Wahlsieger; danach die UBL mit vier und die PDS mit drei Abgeordneten. Zwei Sitze gingen an Einzelbewerber, u.a. den ehemaligen SED-Bürgermeister. Mit nur zwei Gegenstimmen erfolgte dann am 31. Mai auf der ersten frei und demokratisch gewählten Gemeindevertretersitzung der DDR die Wahl des Bürgermeisters Richard Wienecke (SPD). Er nahm damit nach 57-jähriger Unterbrechung die demokratisch legitimierte kommunale Selbstverwaltung in Lehnitz wieder auf. Das erfolgreiche Wirken für den Ort kann man an den zahlreich verwirklichten Zielen ablesen.