Die Lehnitzer bauen sich einen Kulturhaussaal

Von Bodo Becker

Abb. 1. Mit Tatkraft und Zuversicht ans Werk! Alle Fotos Archiv B. Becker

Ein historischer Augenblick für die Lehnitzer Kulturgeschichte! Das Bild zeigt den damaligen Bürgermeister Herbert Kreuschner im Sommer 1961 beim Vollzug der drei traditionellen Hammerschläge für die Grundsteinlegung des großen Kulturhaussaales.

Der Wunsch nach einem Kultur- und Kinosaal gehörte für fast zwei Jahrzehnte zu den dringlichsten Vorhaben der Lehnitzer Öffentlichkeit nach 1945. Es begann mit einem Brief, den der damalige Bürgermeister Max Schulze im Auftrag der Gemeindevertretung am 6. Juli 1949 an den Minister für Volksbildung der Landesregierung in Potsdam sendete. Anlass war der Investititionsplan des Jahres 1950. Das Schreiben trug den Titel „Erläuterungsbericht zu dem Vorentwurf für den Neubau eines Kulturhauses in Lehnitz-Nordbahn“ und besaß sinngemäß folgenden Inhalt: Für die Hebung des allgemeinen Kulturniveaus und die Vermittlung von fortschrittlichem Gedankengut fehlt es an entsprechende Räumlichkeiten. Der vorhandene, stark beschädigte Saal des Restaurants „Seelöwe“ ist zum Ausbau für kulturelle Zwecke nicht geeignet. Darum will die Gemeinde in der Nähe des Bahnhofs, auf dem Grundstück an der Hauptstraße-Ecke Florastraße, ein Kulturhaus errichten. Das Gebäude soll im Erdgeschoss des Haupttraktes ein Kino mit Zuschauerraum für ca. 400 Personen enthalten. Hier könnten auch kleinere Theaterstücke inszeniert und Konzerte veranstaltet werden. Im Obergeschoss will man einen Klubraum, die Gemeinde-Bücherei, ein Spielzimmer und einen Ausstellungsraum unterbringen. Die Kosten schätzen die Planer auf über 312.000 DM. Soweit der Inhalt des Briefes. Führt man sich die Wohnungsnot, die volkswirtschaftliche sowie soziale Situation in der Sowjetischen Besatzungszone vor Augen, so kann man das Lehnitzer Vorhaben nur als schöne Illusion bezeichnen. So werden es wohl auch die zuständigen Bearbeiter im Ministerium gesehen haben, denn ein Kulturhaus ist in dieser Form nie gebaut worden.

Am Ende der 50iger Jahre hatte sich aus einer Gruppe von Theaterbegeisterten das „Lehnitzer Zimmertheater“ am Friedrich-Wolf-Haus gegründet. Mit Unterstützung von Else Wolf, seit 1957 Mitglied des Rates der Gemeinde, wollten die Laienspieler das dramatische Erbe des 1953 verstorbenen Friedrich Wolfs pflegen. (Vgl. Beitrag: Else Wolf – zum 120. Geburtstag einer engagierten Mitbürgerin) Günstige Bedingungen fanden die Aktivitäten durch neue Tendenzen in der Kulturpolitik der SED. Die 1. Bitterfelder Konferenz von 1959 setzte eine größere künstlerische Betätigung der Werktätigen zum Ziel. Die konkrete kulturpolitische Umsetzung widerspiegelte sich in den Arbeiterfestspielen der DDR, den Arbeitertheatern, der Bewegung schreibender Arbeiter und sogenannten Volkskunstgruppen. Orte der künstlerisch-kulturellen Aktivitäten sollten die Kulturhäuser der Gewerkschaften sein, die an vielen Großbetrieben existierten bzw. errichtet wurden. In Lehnitz baute sich die Laienspielgruppe 1960 mit Hilfe von Handwerkern den größten Raum im Hochparterre des Friedrich-Wolf-Hauses zu einem Zimmertheater aus. Dafür spendete Else Wolf 3000 DM.

Abb. 2. Kindervorstellung im Zimmertheater

Im November des gleichen Jahres konnte auch das neue Gebäude der Gemeinde-Bibliothek, sie war beispielhaft für eine kleine Gemeinde im damaligen Kreis Oranienburg, am Birkenwerderweg eingeweiht werden. Heute befindet sich dort eine Fahrschule. (Vgl. Beitrag: Besuch in der Lehnitzer Gemeindebibliothek – Vorzeigeobjekt des Kreises Oranienburg)

Abb. 3. Besuch in der Lehnitzer Gemeindebibliothek

Beide Projekte wurden im wesentlichen mit sogenannten NAW-Einsätzen der Lehnitzer Bevölkerung und ortsansässigen Handwerksbetrieben verwirklicht. Das Nationale Aufbauwerk (DDR-Kürzel=NAW), 1951 von der SED ins Leben gerufen, war eine gelenkte Bewegung für die freiwillige Durchführung von unbezahlten Arbeiten für die Allgemeinheit. In Lehnitz besaß man zu diesem Zeitpunkt bereits lange Erfahrungen mit freiwilligen Arbeitseinsätzen im Rahmen des NAW. Die meisten kommunalen Bauvorhaben waren in dieser Form fertiggestellt worden. Viermal schon hintereinander hatten die Gemeindeaktiven den Gesamtsieg im NAW-Wettbewerb des Kreises erreicht. Für die fernsehlosen Feierabende fehlte den meisten Lehnitzern aber immer noch ein großer Saal für Filmvorführungen. Die Schulaula oder der Saal in der Gaststätte „Lindenhof“ ermöglichten kein optimales Kinoerlebnis. (Vgl. Beitrag: Lehnitzer Kinokultur – eine historische Reminiszenz)

Gemeindevertreter und Bürgermeister Herbert Kreuschner fassten daher die günstige Gelegenheit beim Schopfe und machten den Anbau eines Kulturhaussaales an die Hinterfront des Friedrich-Wolf-Hauses im Rahmen des neuen Siebenjahrplans zum Planvorhaben. „Da weder Landwirtschaft noch Industrie im Ort vorhanden sind, muss sich der Plan auf das Nationale Aufbauwerk konzentrieren. Vordringlich ist hierbei der Bau des Kulturhauses. Nach Zusage des Kreisbaudirektors kann die Oranienburger Bauhütte Süd den Bau errichten.“ So die Ausführungen des Bürgermeisters am 9. Februar 1960 auf einer Gemeindevertretersitzung. Der anwesende Jochen Richter, Mitbegründer des Lehnitzer Zimmertheaters, erklärte sich sogleich bereit, Veranstaltungen vorzubereiten. Doch zwischen Planungen und Realität lagen in der DDR zumeist Welten. So kamen die zugesagten Handwerkerkapazitäten von Seiten des Kreises nicht.

Abb. 4. Fotopause für die Lehnitzer Trümmerfrauen

Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1961 begannen NAW-Helfer und die Lehnitzer Maurerfirma von Oskar Härtel mit den Bauarbeiten. Nach der Grundsteinlegung im Sommer trieben Aktive und Maurer die Fertigstellung des Rohbaus bis zum Ende des Jahres voran. Als Baumaterial dienten die von „Trümmerfrauen“ geputzten Steine aus noch vorhandenen Kriegsruinen.

Der Rechenschaftsbericht über die Erfüllung des „Planes des Nationalen-Aufbauwerkes“ der Gemeinde Lehnitz im Jahre 1961 führte auch den Stand der „Arbeiten am Schwerpunkt Nr. 1“ auf. Geschickt orientierte sich der Verfasser bei der Beschreibung des Vorhabens im schönsten Funktionärsdeutsch an die neuen kulturpolitischen Tendenzen der herrschenden SED: „So wird unser künftiges Kulturhaus zum Mittelpunkt des geistig-kulturellen Lebens auch in unserer Gemeinde werden und damit eine Aufgabe erfüllt werden, wie es sie auf der 14. Tagung des Zentralkomitees der SED gestellt wurde“. Noch gingen die Verantwortlichen von einer Fertigstellung zum 13. Jahrestag der Gründung der DDR, also am 7. Oktober 1962 aus. Doch es war bald absehbar, dass nicht rechtzeitig vorhandenes Baumaterial oder die Nichteinhaltung von zugesagten Terminen der Handwerksbetriebe die Fertigstellung in das nächste Jahr hinausschoben. Um die Arbeiten mit dem Frühjahr 1963 dann forciert aufnehmen zu können, bildete sich am 22. Februar aus den aktivsten Aufbauhelfern ein vierzehn Mitglieder umfassendes NAW-Aktiv. Ab März wurden die sonntäglichen Arbeitseinsätze wieder aufgenommen. Gemeindevertreter und Einwohner sowie ganze Straßengemeinschaften, z.B. der Diana- und Florastraße, gaben Verpflichtungen für die Sonntagsarbeit ab.

Abb. 5. Aller Anfang ist schwer!

Im April schloss die Gemeinde einen Vertrag mit der zuständigen Firma für die Innengestaltung. Diese sollte ihre Arbeiten bis zum 15. September abschließen. Wochen später bat die Firma um eine Terminverschiebung. Der Bürgermeister und der Rat der Gemeinde wollten den Kulturhaussaal jedoch am 7. Oktober unbedingt einweihen. Im ersten Halbjahr wurden unter anderem der Unterbeton für den Fußboden fertiggestellt, die Heizung eingebaut, mit dem Einbau der Wasseranlage begonnen und 240qm Parkett verlegt. Unter den damaligen wirtschaftlichen Verhältnissen waren die erbrachten Leistungen auszeichnungswürdig. Immer wieder auftretenden Probleme und deren Lösungen widerspiegelt das Protokoll des Gemeinderates vom Juni 1963: „Durch Fürsprache ist es gelungen, den für die Weiterführung des Baus so dringend benötigten Zement zu erhalten. Bürgermeister Kreuschner und Gemeindevertreter Lachmann waren deshalb extra in Berlin. Der Zement kann aus Karlshorst geholt werden.“ Die Berichte über die NAW-Einsätze lesen sich wie ein Wettlauf mit der Zeit und geben zugleich Zeugnis über die vermutlich mehr oder weniger freiwillige Einsatzbereitschaft aller Beteiligten ab. Durchschnittlich 30 Einwohner waren jeden Sonntag auf der Baustelle. Mit Beginn der Erntezeit stellten die Lehnitzer zusätzlich Erntehelfer an den Wochenende für die LPG Schmachtenhagen, denn von dort bezog die Gemeinde ihre Einkellerungskartoffeln. Bis September verbuchten die besten Aufbauhelfer zum Teil über 200 Einsatzstunden, so z.B. Gemeinderatsmitglied Alfred Lachmann 312 und Bürgermeister Kreuschner 261 Stunden. Trotz des überragenden Arbeitseinsatzes gelang es nicht, den Termin 7. Oktober punktgenau einzuhalten.

Abb. 6. Jung und alt – alle packen an!

Am Sonntag, dem 6. Oktober, und am nachfolgenden Gründungsfeiertag der DDR arbeiteten insgesamt über 100 Helfer an der Fertigstellung. Mit viel Einfallsreichtum konnten Engpässe überwunden werden. Im hinteren Bereich des Saales hatte man eine Deckenabhängung in Form einer Lattenkonstruktion vorgesehen. Dafür gab es jedoch keine passenden Lampen, sodass die gewünschten Zylinderlampen aus Konservenbüchsen gebaut wurden. Versehen mit einem passenden Anstrich erfüllten sie viele Jahren ihren Zweck.

Endlich, am 12. Oktober 1963, war es dann soweit. Die Lehnitzer Einwohner konnten mit einer festlichen Einweihungsveranstaltung ihren langersehnten, gemeinsam errichteten Kulturhaussaal in Besitz nehmen. Besondere Aufmerksamkeit rief bei den Anwesenden eine von Else Wolf finanzierte Fototafel an der Rückseite des Saales hervor, die den langgestreckten Raum optisch verkürzen sollte. Die darauf abgebildeten zwölf Figuren aus Dramen von Friedrich Wolf hatte der Künstler Conrad Felixmüller gestaltet. Der Gesamtwert des geschaffenen Gebäudes belief sich auf über 180.000 DM. Doch daran dachten die anwesenden Erbauer an diesem Abend vermutlich nicht. Nach der Festrede von Heinrich Taut, Sohn des Architekten Bruno Taut, gestalteten Künstler des Metropol-Theaters Berlin ein Unterhaltungsprogramm. Neben der anwesenden Else Wolf gehörte auch der Filmregisseur Konrad Wolf (Sohn von Else und Friedrich Wolf) zu den Gästen.

Abb. 7. Jugendweihe 1969. Oben, zwischen den senkrechten Latten – die Zylinderlampen

Ein für die damaligen Lehnitzer wichtiges Ziel konnte auch der neue Saal nicht verwirklichen. Die Deckenhöhe des für die Aufnahme der Filmprojektoren vorgesehenen Raumes über den Eingangsbereich reichte nicht aus (siehe Abb. 7). Sie mussten mit störendem Betriebsgeräusch bei Filmvorführungen im Saal stehen. Dieser Mangel stellte sich in den folgenden Jahren aber als nicht allzu schmerzlich heraus, denn das familiäre Latschenkino verdrängte die öffentlichen Filmvorführungen aus dem Blickfeld der damaligen Freizeitgestaltung. Doch die wichtigste Vision der Aufbaugeneration wurde Realität: Das Lehnitzer Kulturhaus „Friedrich Wolf“ entwickelte sich zu einem kulturellen und gesellschaftlichen Zentrum der Gemeinde und weit darüber hinaus. An uns bleibt daher die verpflichtende Aufgabe, den Mut und den Fleiß der vielen Erbauer nicht der Vergessenheit preiszugeben und ihr geschaffenes Werk für die Zukunft zu erhalten.

Epilog:

Am Dienstag, dem 10. September 1963, informierte die Neue Zeit (Parteizeitung der DDR-CDU) ihre Leser über folgenden Sachverhalt:

„Kulturhaus im NAW

Die festliche Einweihung eines Kulturhauses, das sich die Einwohner der Gemeinde in dreijähriger Arbeit im Nationalen Aufbauwerk ohne einen Pfennig Staatsgelder selber bauten, wird im Dorf Lehnitz bei Berlin Höhepunkt der Wahlvorbereitungen sein. Das neue Kulturhaus hat 400 Plätze und repräsentiert den Wert von einer halben Million DM. Die Einwohner leisteten neben den Arbeiten an ihrem Kulturhaus im vergangenen Jahr 6800 Arbeitsstunden in der großen LPG Schmachtenhagen. Außerdem entstand aus einer leerstehenden Bahnhofsgaststätte in über 1000 Stunden ein Jugendklub.“

Abb. 8. Das Werk ist vollbracht!