Lehnitzer Wohnungsfund passend zur Weihnachtszeit

Weihnachtsgrüße aus der „guten“ alten Zeit vor mehr als 100 Jahren

von Bodo Becker

Meine Großmutter Lina – Gott hab sie selig – war eine Frau ihrer Zeit. Als wir nach ihrem Ableben die Wohnung auflösten, erregte ein geschlossener Schuhkarton unsere Neugier. Ein kurzer Blick hinein genügte, um zu erkennen, dass uns hier ein wahrer Schatz in die Hände gefallen war: Ansichts- und Grußkarten aus längst vergangener Zeit! Erstaunlich war dabei die nahezu unüberschaubare Vielfalt der angebotenen Illustrationen, die es dem Verfasser schwer machte, einen Einstieg zu finden. So auch bei den Weihnachtskarten, wo man schon bei den vorgegeben Grußformen sehr variabel war. Es gab u.a. Gesegnete, Fröhliche und Frohe Weihnachten; Herzliche und Innigste Weihnachtgrüße.

Grußkarten, die den christlichen Charakter des Weihnachtsfestes in den Vordergrund stellten, konzentrierten sich bei ihren Motiven natürlich auf die „Heilige Nacht“ – der Geburt Jesu Christi – am 25. Dezember, dem 1. Weihnachtstag. (Abb. 1-3)

 

Abb. 1

 

Bei zwei der ausgewählten Beispiele wird deutlich, dass sich die Künstler dabei nicht unbedingt an die biblische Vorlage hielten. Das Motiv mit den Tieren des Waldes, dem Lichterbaum und der Mutter Maria mit dem blonden Jesuskind transportiert die heilige Nacht in den deutschen Wald nach Mitteleuropa. Weihnachten als deutsches Fest. Dagegen orientierte sich der Zeichner der musizierenden und singenden Engel sowie der Darstellung von Maria mit dem Christuskind an mittelalterliche Vorlagen.

 

 

Weihnachten war damals wie heute ein Fest der Familie. Mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts hatte sich die traditionelle Großfamilie in den Städten weitestgehend aufgelöst. Bei vielen Menschen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war das Zusammenleben mehrer Generation unter einem Dach noch in lebendiger Erinnerung. Die verklärte Rückbesinnung auf ein generationenübergreifendes Familienleben widerspiegelte sich auch in den Ansichten der Weihnachtskarten. (Abb. 4 u. 5)

 

 

 

Aber auch das moderne Familienbild des 20. Jahrhunderts mit einem oder mehreren Kindern fand Eingang auf den Weihnachtskarten. (Abb. 6 u. 7)

Vor der Gründung einer Familie stehen die Partnersuche und die junge Liebe. Die Liebesbeziehung vor der Eheschließung gelangte mit der fotografischen Reproduktion zum ersten Mal massenhaft in die Öffentlichkeit. Für viele ältere Menschen jener Zeit durchaus ein Tabubruch! Die Bilder vermittelten zugleich das vorherrschenden Männer- und Frauenbild. Der Mann als der aktivere Partner, als Liebeswerber und Geschenkgeber. Der geschmückte Weihnachtsbaum war das Symbol für das Weihnachtsfest, denn ansonsten wurde der Anlass nicht sichtbar. Weihnachten zur Zeit unserer Groß- und Urgroßeltern war also auch ein Fest der Liebe zwischen den Geschlechtern. (Abb. 8 – 10)

 

 

Von der Liebe ist es nicht weit zum nächsten Bildmotiv: den Kindern. Sie traten häufig in kitschigen Verkleidungen als Engel, Christkind oder Beschenkte auf.

 


Die ersten, industriell gefertigten Spielzeuge am Boden vor dem Gabentisch kündeten vom neuen Verkehrszeitalter mit Eisenbahn und Automobil. Ansonsten orientierten sich die Geschenke an den vorgegebenen Geschlechterrollen, was für die Jungen auch zunehmend militärisches Spielzeug bedeutete. Eine Grußkarte aus dem Jahre 1906 zeigt Kinder wohlhabender Eltern im Schneegestöber in pelzbesetzter Winterkleidung vor einem Engel.

 

Hier und auch bei anderen Bildmotiven aus den festlich geschmückten Wohnzimmern können wir erkennen, dass die Darstellungen mit der sozialen Realität der meisten Familien nur wenig übereinstimmten. Für die Kinder der unteren Schichten blieben viele der Spielzeuge nur ein schöner Traum. (Abb. 13 – 16)

 

 

Die Weihnachtssymbolik unterschied sich nur teilweise von der heutigen. Schnee und romantische Winterlandschaften (zum Teil mit einsam stehenden Mühlen), Tannenzweige mit brennenden Kerzen, idyllisch verschneite Dorfansichten mit alten Dorfkirchen und immergrünes Eichen- oder Lorbeerlaub gehörten am häufigsten dazu. Auffallend sind die Künstler-Karten im Geschmack der Zeit. (Abb. 17 -19)

 


Die Darstellung eines verschneiten Stadtbildes erschien dagegen eher selten. Die hier gezeigte Ansicht mit nationaler Symbolik erreichte im Kriegsjahr 1914 ihren Empfänger.

Abb 20. Ansichtskarte mit den Farben des deutschen Kaiserreiches

 

Der wichtigste Akteur des heutigen evangelischen Weihnachtsfestes, im roten Mantel und mit weißem Rauschebart, trat um die Jahrhundertwende als Nikolaus oder Knecht Ruprecht in noch wechselnden Kostümen auf. Zwar gehörte ein langer weißer Bart auch hier zu seiner Erscheinung, jedoch war der lange Mantel nicht immer rot und sah auch schon mal einer Mönchskutte ähnlich.

 

 

Attraktivere Bilder gab es für unternehmungslustige Junggesellen. Mit dem Einsatz der Fotografie konnte man ihnen den weihnachtlichen Kartengruß von elegant gekleideten jungen Damen – heute würde man Models sagen – überbringen lassen. (Abb. 25 u. 26)

 

 

Wir sehen, den Herstellern von Grußkarten gelang es auch zum Weihnachtfest, ganz spezifische Zielgruppen für den kurzen Weihnachtsgruß zu erreichen. Bei politischen Propagandisten und der kaiserlichen Familie kam zugleich die Erkenntnis, dass sich Grußkarten als Medium hervorragend für die politisch-ideologische Einflussnahme eigneten. In den Jahren der imperialen Weltpolitik des Deutschen Kaiserreichs vor dem Ersten Weltkrieg eroberten zunehmend Grußkarten den Markt, die mit ihren Bildmotiven imperiales Gedankengut, z.B. für die maritime Rüstungspolitik oder Militarisierung der Gesellschaft, verbreiteten. Die hier gezeigten Illustrationen sind sichtbare Beispiele dafür. (Abb. 27 u. 28)

 

 

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahre 1914 kam den Grußkarten neue, äußerst emotionale Aufgaben zu. (Vgl. Beitr. dazu: „Weihnachtsgrüße im Ersten Weltkrieg – Trost, Kitsch und Propaganda“). An dieser Stelle wollen wir unseren kleinen kulturgeschichtlichen Ausflug in die Weihnachtszeit unserer Groß- und Urgroßeltern beenden. Danach müssen wir uns wohl auch vom oft geäußerten Klischee verabschieden, das Weihnachtfest früherer Zeiten sei viel besinnlicher und religiöser gewesen. Gerade die Vielfalt der Bildmotive ist ein Gradmesser dafür, wie weit die Verweltlichung des ursprünglich rein christlichen Festes bereits um die Jahrhundertwende vorangeschritten war und sich zu einem Bescher-Anlass für die Familien, zumindest in den Städten, umgewandelt hatte. Bei den gesendeten Wünschen schreckte man auch vor Humor nicht zurück! (Abb. 29-30) Genießen wir also in dieser Hinsicht ohne schlechtes Gewissen die Weihnachtsfeiertage.