Jugendherberge in Lehnitz

Die Jugendherberge Lehnitz am Mühlenbecker Weg – entstanden in schwierigen Zeiten.

Teil 1. 1930 bis 1945

Von Bodo Becker

Es ist noch immer das erste Haus (Nr. 14) auf der rechten Seite am Mühlenbecker Weg, wenn man Lehnitz erreicht. Hier befand sich bis 1973 die Lehnitzer Jugendherberge. Ihre Entstehung geht zurück in das Jahr 1930. Sie ordnete sich ein in den Zeitgeist zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, den viele Zeitgenossen als eine Epoche des Um- und Aufbruchs empfunden und erlebt haben. Im Bereich der Bildung und Schule wollten Lehrer den Volksschulkindern eine naturnahe Erholung ermöglichen und Studienräte die Gymnasiasten aus den Zwängen von Disziplin- und Gehorsamspädagogik befreien. Dazu gehörten Wanderfahrten in die freie Natur. Aus solchen Aktivitäten entwickelte sich eine Jugendbewegung mit intensiven Erlebnissen, geringem Gepäck und Übernachtungen an Orten ohne Zivilisationskomfort. Erste Herbergen für wandernde Jugendliche entstanden in diesem Umfeld um 1900. Bis 1914 war die Zahl der dauerhaften Übernachtungsmöglichkeiten bereits auf 535 angewachsen. Während des Ersten Weltkrieges konnte die Zahl der Herbergen zwar nicht gesteigert werden, jedoch wurden noch 1914 die organisatorischen Weichen für ein überregionales „Deutsches Jugendherbergswerk“ (DJH) gestellt. Am 13. April 1918 gründete sich als erster offizieller Zweigausschuss der „Bund für Jugendherbergen in der Mark Brandenburg“. In den 1920er Jahren konnte das DJH mit seinen überparteilichen Zielen einen erheblichen Aufschwung verzeichnen. Notwendige finanzielle Förderung erhielt es von Seiten der Reichsregierung, der Städte und Gemeinden in jährlicher Millionenhöhe. Bis 1933 entstanden so etwa 2100 Jugendherbergen.

Dazu gehörte auch die Lehnitzer Jugendherberge, von deren künftigen Existenz der „Briesetal-Bote“ am 10. April 1930 berichtete. Danach überließ die Provinzregierung in Potsdam das am Mühlenbecker Weg liegende Gebäude einer früheren Transformatorenstation der Berliner Organisation des DJH. In einem ersten Bauabschnitt entstanden ein Tagesraum, vier Schlafräume mit 60 Betten, eine Herbergsküche und notwendige Sanitäreinrichtungen. Als erster Herbergsvater fungierte ein Herr Kwehl. Bis 1940 weisen die Adressbücher noch drei weitere Herbergsleiter nach. Sie war die einzige Jugendherberge im Bereich des damaligen Amtsbezirks Birkenwerder und damit in unmittelbarer Nähe des Berliner Nordens. Die S-Bahn-Anbindung, ausgedehnte Wälder und der Lehnitzsee machten sie für die Berliner Wanderer besonders attraktiv. Schon für das Jahr 1931 zählte die Übernachtungsstatistik über 2800 Gäste. Ein Jahr später konnten die Übernachtungen auf 8366 gesteigert werden. Damit hatte die Jugendherberge ihre Aufnahmekapazitäten mehr als ausgeschöpft und vorhandene Mängel machten sich jetzt besonders bemerkbar. Unbefriedigend waren die Sanitärsituation und die Frage der Herbergselternwohnung.

Abb. 2. Ansichtskarte. Zustand 1936 nach den zahlreichen Umbauten

Das NS-Regime hatte schon unmittelbar nach der Machtübernahme den Wert des DJH als Instrument für ihre Jugendpolitik erkannt. Funktionäre der Hitler-Jugend (HJ) übernahmen mit der Gleichschaltung im April 1933 Leitungspositionen; politisch missliebige oder jüdische Mitglieder mussten das DJH verlassen. Die HJ nutzte die Jugendherbergen nun zunehmend für Unterkünfte im Rahmen paramilitärischer Ausflüge, als Gemeinschafts- und Bildungsstätten für die ideologische Indoktrination, z.B. beim angeordneten Gemeinschaftsempfang des Reichsdeutschen Rundfunks. Durch den Neubau eines Stall- und Scheunengebäudes konnten nach 1933 weitere Räume im Gebäude in Anspruch genommen werden. Ein zweiter Tagesraum (diente als Lese- und Plättraum) kam hinzu, eine Herbergselternwohnung eingerichtet und 1935 eine Selbstversorgerküche sowie Abwaschküche angebaut. Die Toilettenanlage wurde verbessert und ein zweiter Waschraum geschaffen. Insgesamt fanden nun 150 Wanderer Unterkunft. Für die Aufnahme mussten sie entweder einen Wohnungsnachweis, Führerschein oder eine Mitgliedskarte des DJH vorzeigen.

Abb. 3. „Bleibenausweis“ und Anstecknadel, 1939

In einem längeren Bericht vom 17. Mai 1936 informierte der „Briesetal-Bote“ seine Leser detailliert über die Lehnitzer Einrichtung. Nach den veröffentlichten Zahlen hatten sich die Übernachtungen von 3553 im Jahre 1933 auf 8060 im Jahre 1935 erhöht. 1933 waren von den Gästen 33% Volksschüler, 29% Schüler höherer Lehranstalten, 31% Jugendliche und 7% Jugendliche über 20 Jahre. Eine ausgeglichene soziale und altersmäßige Zugehörigkeit wird hier sichtbar. Hinzu kam für den genannten Zeitraum die Belegung mit Angehörigen des sogenannten Reichsarbeitsdienstes (RAD). Während der sogenannten Sudetenkrise im September 1938 bekam die Jugendherberge zeitweilig die Funktion einer Flüchtlingsherberge. Ab dem 25. September fanden 33 Frauen und 11 Kinder als Flüchtlinge aus dem noch tschechischen Sudetengebiet hier zeitweilig eine Unterkunft. Obwohl sie nach einigen Wochen wieder in ihre – nunmehr zum Deutschen Reich gehörenden – Heimat zurückkehren konnten, waren sie die ersten Opfer der nationalsozialistischen Expansionspolitik gewesen, denn 1945 mussten sie ihre Heimat für immer verlassen. Wie der Lehnitzer Einrichtung erging es den meisten Jugendherbergen, die während des Krieges als Lazarette, Kriegsgefangenen- oder Zwangsarbeiterlager und nach Kriegsende als Flüchtlingslager zweckentfremdet wurden.

Abb. 4. Blick auf den Mühlenbecker Weg mit der Jugendherberge, Mitte der 1930er Jahre