Lehnitzer Geschichten – 1. Mai 1946: „Wir wollen niemals wieder Sklaven sein…“

1. Mai 1946: „Wir wollen niemals wieder Sklaven sein…“

Von Bodo Becker

Die Abbildungen gehören zu jenen historischen Zeugnissen, die nicht nur eine konkrete Situation zeigen, sondern auch eine mögliche Stimmung der abgebildeten Menschen vermuten lassen. Es ist der 1. Mai-Demonstrationszug des Jahres 1946 in Lehnitz, beginnend  auf dem Gutsplatz, über den beschrankten Bahnübergang auf die Freiheitsstraße (bis 1945 Kaiser-Wilhelm-Straße, ab Dezember 1953 Friedrich-Wolf-Straße) in Richtung nördlicher Ortsausgang.

lehnitz mai 1946

Bild 1. Archiv B. Becker

Nach zwölf Jahren Missbrauch durch die Nationalsozialisten als „Tag der nationalen Arbeit“ können die Menschen im besetzten Deutschland durch einen Beschluss des Alliierten Kontrollrats den staatlichen Feiertag nun in Frieden begehen. In der Sowjetischen Besatzungszone haben sich wenige Wochen zuvor – mit repressiver Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht – unter anderen zwei politische Organisationen gegründet, die in der späteren DDR beherrschenden Einfluss haben sollten.

Es sind dies die am 7. März gegründete Freie Deutsche Jugend (FDJ) und die durch Zwangsvereinigung der SPD-Ost mit der KPD am 21./22. April entstandene Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). Der SED-Bürgermeister Erich Piehl (davor KPD) und der Gemeinderat, hier besitzen nun die SED-Genossen eine Stimmenmehrheit, haben zu diesem Aufmarsch aufgerufen. Bei sonnigem Frühlingswetter ziehen mehrere Hundert Lehnitzer mit Transparenten durch den Ort. Die in Sonntagskleidung mitlaufenden Kinder und der mit Kindern besetzte Lastwagen lassen den Aufzug für den Betrachter in einer unbeschwerten Fröhlichkeit erscheinen. Dass diese Stimmung bei den Erwachsenen tatsächlich vorhanden ist, darf bezweifelt werden, denn ein Jahr nach Kriegsende gehören Trauer in den Familien und materielle Not noch immer zum Alltag. Wie schwierig sich die Organisation der Lebensbedingungen darstellt, widerspiegelt sich darum auch im häufigen Wechsel der Bürgermeister. Als Piehl das Amt im April 1946 übernahm, gab es bereits vier Vorgänger.

Das Protokoll einer am 10. Februar stattgefundenen Bürgerversammlung der Gemeindeverwaltung ermöglicht uns einen Blick zurück. Nach dem Verbrauch der letzten Vorräte hatte im Frühsommer 1945 das Aus der Versorgung gedroht. Zerstörte Zufahrtsbrücken erschwerten nötigen Nachschub. In dieser Lage erwies sich die Nähe des KZ Sachsenhausen als rettender Strohhalm in der Not. Es gelang in Absprache mit der russischen Kommandantur, eine Versorgung aus den noch vorhandenen Lagervorräten zu organisieren. Die Verwaltung richtete eine Gemeinschaftsküche mit täglich 600 bis 800 Liter Essen für die Bevölkerung ein. Bis Oktober entspannte sich die Lage durch den Eigenanbau von Kartoffeln und Gemüse leicht. Doch die geringen Mengen zentraler Lebensmittelvorräte lassen sich an den ab November ausgegebenen Lebensmittelkarten für rationierte, preisgebundene Nahrungsmittel ablesen. Danach standen Arbeitern z.B. täglich 100 Gr. Brot, 200 Gr. Kartoffel, 150 Gr. Gemüse und wöchentlich 100 Gr. Fleisch zu. Der bauliche Zustand der Schule und fehlende Lehrmaterialien erschwerten den Unterricht für die 164 Schüler. Für sie konnte man wenigstens eine bescheidene Schulspeisung einrichten. Die drei Schulhelfer und die Leiterin unterrichteten mit viel Engagement in sieben Klassen. Ein folgenschweres Problem bestand in den sehr schlechten hygienischen Verhältnissen, die Ende Juni das Ausbrechen einer schweren Typhusepidemie verursachten. Blanke Not ließ die Kriminalität im Ort ansteigen, so dass die Polizei im Bericht 109 Eigentumsdelikte von September 1945 bis Februar 1946 registrieren musste. Die aufgezeigten Lebensumstände riefen verständlicher Weise bei den meisten Lehnitzern Existenz- und Zukunftsängste hervor. Doch machen an diesem 1. Mai der Sonnenschein und das Geschehen zumindest die Kinder sichtbar fröhlich und die Jugend formuliert auf dem Transparent der FDJ schon mal den politischen Willen für die Zukunft: „Wir wollen niemals wieder Sklaven sein, sondern eine Freie Deutsche Jugend“.

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Bild 2. Archiv B. Becker