Lehnitz vor 80 Jahren!

Vor 80 Jahren auf den Seiten des Briesetal-Botens: Die Nordbahngemeinden im Zweiten Weltkrieg. Teil 2

Von Bodo Becker

Arbeitskräftemangel und kriegswichtige Infrastruktur

Ein schwerwiegendes Problem für die deutsche Rüstungs- und Kriegswirtschaft war der Arbeitskräftemangel, hervorgerufen durch den immer größer werdenden Bedarf an Soldaten. Um hier Ersatz zu schaffen, sollten unter anderem Frauen die Arbeitsplätze der fehlenden Männer in den Betrieben einnehmen. Oranienburger Rüstungsbetriebe, wie die Firmen Auer und Heinkel, suchten über die Heimatzeitungen weibliche Arbeitskräfte. Mit der örtlichen Einrichtung von Kindergärten wollte man Müttern den Arbeitseinsatz erleichtern. Schon am 13. September 1939 berichtete der Briesetal-Bote über die Eröffnung des Lehnitzer Kindergartens im Feuerwehrhaus am Birkenwerderweg.

Abb. 1. Rat der Gemeinde mit FFw Lehnitz am Birkenwerderweg, um 1975

Im letzten Drittel des Jahres 1939 fanden in der Region noch Bauvorhaben ihren Abschluss, die für die Kriegswirtschaft des Berliner Raumes erhebliche Bedeutung besaßen. Die täglichen Pendler in die Reichshauptstadt konnten mit dem am 8.10. eröffneten durchgehenden S-Bahnverkehr Wannsee-Oranienburg noch schneller ihre Arbeitsplätze erreichen. Ausführlich informierte der Briesetal-Bote über den Bauhergang. Danach waren in 5 ½ Jahren insgesamt 173 Mill. RM verbaut, 12000 Arbeiter zum Einsatz gekommen und 5,3km Tunnelstrecke in die Erde versenkt. Alle zehn Minuten fuhren die Züge und benötigten für die gesamte Strecke noch nicht einmal 1 ½ Stunden. Der wieder hergestellte S-Bahnhof Potsdamer Platz vermittelt einen Eindruck von der damaligen Gestaltung.

Abb. 2. Briesetal-Bote, 07.10.1939

Die am 21.12.1939 mit der Durchschleusung des Dampfers „Fritz“ begonnene Inbetriebnahme der zweiten Schleusenkammer an der Lehnitz-Schleuse beseitigte ein Nadelöhr und war damit ein wichtiger kriegswirtschaftlicher Beitrag für die Binnenschifffahrt zur Ostsee. An der Kammer von 1912 hatten sich während der Hauptverkehrszeiten Schlangen von wartenden Schiffen bis zu 5km Ausdehnung gebildet. Nun nahm die neue Schleusenkammer mit ihren 134m Länge und 10m Breite einen Schleppzug von sechs Finowmaßkähnen auf, die mit einer Schleusung das Gefälle von 5,8m überwanden. Die dringend benötigten Rohstoffe aus der Sowjetunion und Nordeuropa konnten vom

Stettiner Hafen in kürzerer Zeit in die mitteldeutschen Rüstungszentren transportiert werden.

Abb. 3. Die neue Schleusenkammer im Winter 1939/40

Im November 1940 fand mit großem publizistischen Propagandaaufwand und viel brauner Prominenz die Grundsteinlegung für ein Bauvorhaben statt, das nie vollendet werden sollte. Es handelte sich um die Errichtung eines Kreiskrankenhauses hinter dem Grundstück des ehemaligen Jüdischen Erholungsheims in Lehnitz. Zu diesem Zeitpunkt war das Gebäude bereits ein zum Kreiskrankenhaus Oranienburg gehöriges Hilfskrankenhaus. Obwohl laut Aussage des Berichtes die Finanzierung gesichert sein sollte, erinnerte nur eine riesige Baugrube noch Jahrzehnte später an das gescheiterte Projekt. Von dem Aushub erhielt der „Weiße Strand“ seine schöne Liegefläche.

Abb. 4. Modell des geplanten Kreiskrankenhauses von Architekt Eckart Muthesius (1904-1989)

Lebensmittelrationierung und zunehmende Eigentumsdelikte

Der Krieg aktualisierte die traumatische Erfahrung der Bevölkerung mit der Lebensmittelnot in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges. Auch darum ordnete die staatliche Wirtschaftsbürokratie mit Beginn des Krieges die Rationierung der Lebensmittel an. Amtliche Bekanntmachungen bestanden von nun an zu einem großen Teil aus Ankündigungen über die Verteilung der Bezugskarten, so z.B. am 21.9.1940: Eierverteilung, Ausgabe der Reichsseifenkarte, Verteilung der Reichskleiderkarte, Fettverbilligung… Besondere Bedeutung bekam die schon seit 1925 existierende Beilage Der praktische Landwirt. Sie war die letzte aus der Vorkriegszeit, die noch regelmäßig erschien. Am 12.9.1940 mit dem Thema: „Unser Vorratskeller wird eingerichtet.“

Abb. 5. Briesetal-Bote, 18. 11.1939

Die Stadt Oranienburg stellte Gartenland für den Anbau von Kartoffeln und Gemüse kostenlos zur Verfügung. Schon im April 1940 wies ein Artikel mit „Nahrung, die am Wege wächst“ auf weitergehende Alternativen hin, die jedoch erst in den Jahren 1945/46 Realität werden sollten. Daneben gab es wöchentliche Ratgeber für das sparsame Kochen mit den rationierten Lebensmitteln. Dem sogenannten Normalverbraucher standen im April/Mai 1943 täglich 320g Brot, 50g Fleisch, 30g Fette und 25g Marmelade zur Verfügung. In nicht immer nachvollziehbarer Offenheit berichtete die Heimatzeitung über begangene Eigentumsdelikte. Dazu gehörten Vieh- und Fahrraddiebstähle, Diebstähle in Betrieben, Einbrüche und Schwarzschlachtungen. So entwendeten z.B. Einbrecher 1941 während eines Luftschutzalarms im Lehnitzer Restaurant „Seebad Lehnitz“ ein Radiogerät und das Wechselgeld. Detailliert und geradezu appetitanregend erfolgte wenige Tage vor dem Weihnachtsfest im Jahre 1941die Aufzählung der Einbruchsbeute aus einer Oranienburger Fleischerei : Fünf Schlackwürste, eine Gänsebrust, drei Stücken Kotelett und ein Rippenstück…!

Heimatgeschichte und Trauerbewältigung

Ab November 1940 kamen wieder verstärkt heimatgeschichtliche Beiträge zur Veröffentlichung. Die bekannten Heimatforscher sollten mit ihren Geschichten über Gasthäuser, Gutshäuser, Brände, Bauernhöfe in Birkenwerder und Borgsdorf auch von den Alltagserschwernissen des Krieges ablenken.

Abb. 6. Briesetal-Bote, 02.11.1940

Ausführlich berichtete der Briesetal-Bote über die Veranstaltungsvorträge der Heimatkundlichen Vereinigung Oranienburg und Umgegend: Die Siedlungstätigkeit Friedrich des Großen in unserer Heimat (Lehnitz, 1.6.1940), die Geschichte der Kolonie Briese (Birkenwerder, 26.7.1940), Humor aus vergilbten heimatlichen Zeitungsblättern (Lehnitz, 1.10.1940), die Geschichte der Festmahlzeit (Oranienburg, 3.12.1940), der Oranienburger Schlossplatz und seine Pflanzenwelt (Oranienburg, 29.5.1941), von der Flutrinne zur Kammerschleuse (Lehnitz, 13.6.1941) lauteten unter anderem die veröffentlichten Themen.

Immer mehr Raum beanspruchte die Kriegsberichtserstattung von den Fronten. Hier beschränkte man sich für lange Zeit auf die Siege der Wehrmacht, die gegnerischen Kriegsgefangenen und Toten. Nur indirekt erfuhren die Leser von den eigenen Verlusten. Da berichtete man über die Pflege deutscher Gefallenengräber oder Besuche in Militärlazaretten. Erst Anfang Juni 1940 tauchten die ersten Gefallenenanzeigen aus den Gemeinden Bergfelde und Birkenwerder bei den Familiennachrichten auf. Keineswegs kontinuierlich, sondern offenbar dosiert, widerspiegelte auch ihre Zahl durchaus nicht das tatsächlichen Ausmaß des familiären Leidens. Die Machthaber befürchteten zu Recht, dass der vielfach veröffentlichte Schmerz ein kritisches Nachdenken über den Sinn dieses Krieges auslösen könnte. Als in den Weiten der Sowjetunion hunderttausendfach gestorben wurde, trat an die Stelle des nationalen Pathos in einigen Anzeigen, neben der persönlichen Trauer, auch Verbitterung. So in einem Nachruf von Mai 1942, wo ohne die pflichtgemäße Formulierung, „Für Führer, Volk und Vaterland“, der Gefallene, ein junger Mann aus Birkenwerder, „als zu gut für diese Welt“ bezeichnet wurde. Niederlagen und nicht erreichte Kriegsziele wandelten die Propagandisten in geplante Rückzüge um, beziehungsweise verschwiegen sie einfach.

Abb. 7. Briesetal-Bote, 27.05.1942

Leben im Bombenkrieg

Abb. 8. Beschädigtes Haus im Lehnitzer Forstring, März 1945

Am 3.7.1940 informierte der Briesetal-Bote seine Leser über „planlose“ Bombardierungen deutscher Städte durch die britische Luftwaffe. Überheblich hatte Hermann Göring, er leitete die Bombereinsätze gegen Großbritannien, zu Beginn des Krieges erklärt, dass er Meier heißen wolle, wenn je ein feindliches Flugzeug die Reichsgrenzen überfliegen würde. Damit hatte er einen seiner vielen Spitznamen von der Bevölkerung weg. Nachdem die nationalsozialistische Propaganda bis dahin ständig von einer übermächtigen deutschen Luftüberlegenheit gesprochen hatte, kam sie nun in Erklärungsnot.

Abb. 9. Zerstörungen im Bereich Lehnitzer Gutsplatz, März 1945

Auch Berlin und Oranienburg waren Ziele der britischen Luftwaffe, was den Lesern des Briesetal-Botens natürlich nicht verborgen geblieben war. Um der Bevölkerung auch weiterhin ein Gefühl der Sicherheit zu geben, reagierten die örtlichen NSDAP-Führer mit verstärkten Luftschutzübungen. In Lehnitz probten im Juni die Oranienburger und Lehnitzer Freiwilligen Feuerwehren die Bekämpfung eines Dachstuhlbrandes, hervorgerufen durch Brandbomben, am Gebäude des Hilfskrankenhauses. Nur wenige Tage später berichtete die Heimatzeitung über Einsatzübungen in Borgsdorf und Birkenwerder. Hier hatte man Bombardierungen des Postamtes und der Schule angenommen. Schlagzeilen, wie „Im Zeichen der deutschen Luftangriffe“ oder „505 Britenflugzeuge in einer Woche abgeschossen“ (16./17.8.1940), begleiteten die Aktivitäten propagandistisch.

Ende des Briesetal-Botens

Der immer größer werdende Bedarf an Rohstoffen für die Kriegswirtschaft machte sich ab 1942 auch für den Briesetal-Boten bemerkbar. Bis auf wenige Ausnahmen umfasste eine Ausgabe nur noch vier Druckseiten. Entsprechend bescheiden fiel die Jubiläumsausgabe der Zeitung zum 40. Jahrestag ihres Bestehens am 29.8.1942 aus. Walter Voss, der Herausgeber, sprach in seinem Jubiläumsbeitrag von den Aufgaben der Heimatzeitung im Kriege. Beschränkung des Regionalteils auf die „Tätigkeit der Partei und aller Organisationen der inneren Front…, lebendiges Bindeglied zwischen Heimat und Front zu sein und damit auf ihre Art beizutragen zum Sieg.“ Zum zweiten Male in der Zeit seines Bestehens hatte sich der Briesetal-Bote in den Dienst einer Kriegsführung gestellt. Die erste Ausgabe des Jahres 1943 kam mit einem Druckerschwärze sparenden, neuen Titelblatt heraus.

Abb. 10. Die Wende im Osten: Die Schlacht von Stalingrad. Über 700.000 Menschen starben.

Ohne eine veröffentlichte Vorankündigung stellte die Heimatzeitung ihre Berichterstattung mit 30. Juni 1943 ein. Damit fand eine Zeitungsgeschichte unserer Region abrupt ihr Ende. Der Anfang vom Ende aber lag im Jahr 1933, als die Herausgeber das journalistische Prinzip einer unabhängigen Berichterstattung für das Weiterbestehen des Briesetal-Botens opfern mussten.