Vor 75 Jahren: Kriegsalltag in Lehnitz 1945. Ein Erlebnisbericht
Ergänzt und bearbeitet von Bodo Becker
Ende Januar verlief die Frontlinie entlang der Oder und der Lausitzer Neiße von Stettin bis Görlitz. Damit hatte sich die gnadenlose Maschinerie des tausendfachen Tötens bis auf knapp 80 Kilometer der Reichshauptstadt Berlin, dem Ausgangsort des verbrecherischen Angriffskrieges, genähert. Hier verharrte die Rote Armee bis Mitte April, um sich auf die entscheidende Schlacht (Berliner Operation) vorzubereiten. In dieser Zeit verschlechterten sich die Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung dramatisch. So auch in Lehnitz, wie man den nachfolgenden Erinnerungen der damals am Gutsplatz 8 wohnenden zehnjährigen Regine Spangenberg (geb. Schmidt) entnehmen kann.
Den letzten Kriegswinter 1944/45 empfanden wir alle als besonders dunkel. Das lag nicht nur an der kürzeren Zeit des Tageslichtes, sondern auch an den häufigen Stromabschaltungen und den angeordneten Verdunkelungen der Fenster während der Abend- und Nachtstunden. Kein Schein durfte aus den Zimmern nach draußen dringen und den anfliegenden Bombern ein Ziel geben. So genannte „Verdunkelungssünder“ mussten mit schweren Strafen rechnen. Die vielen Berliner Frauen, die morgens in Lehnitz die S-Bahn verließen, um im Werk II („Volksgasmaskenfabrik“) der Auerwerke am Lehnitzsee Gasmasken und anderes kriegswichtiges Material zu produzieren, trugen grünlich phosphoreszierte Plaketten an der Kleidung, damit sie sich im Dunkeln nicht behinderten. Uns Schulkinder erinnerten sie von Weitem an hüpfende Glühwürmchen.
Abb. 1. Zeitungsillustrationen Kohlenklau“. Quelle: Briesetal-Bote, 1942, 13. Januar
Die wenigen Mauern und Wände am Gutsplatz hatten Mitglieder der Nazipartei mit Parolen, wie „Vorsicht, Feind hört mit!“ oder „Räder müssen rollen für den Sieg!“, beschmiert. Am hölzernen Tor von Friedrich Lehmanns Gaststätte (heute griechisches Restaurant) hing ein großes Plakat mit der damals allseits bekannten Gestalt des „Kohlenklau“. Seine Angst einflößende Erscheinung als hinterlistiger Dieb sollte vor dem verschwenderischen Umgang mit den immer knapper werdenden Energiequellen warnen. Doch die Durchhaltepropaganda geriet immer mehr im Widerspruch zum täglichen Überlebenskampf und fand immer weniger Beachtung. Ohne die Gartenkartoffeln, das eingeweckte Obst und Gemüse aus dem Garten hätten wir noch schlimmeren Hunger erleiden müssen. (Im März 1945 betrugen die wöchentlichen Rationen für einen Normalverbraucher 1778 gr. Brot, 222 gr. Fleisch und 109 gr. Fett.) Auch wir Kinder bemerkten, dass das Kriegsgeschehen nur noch wenige Kilometer entfernt war. Das letzte militärische Aufgebot, der „Volkssturm“, zwang nun neben Hitlerjungen zunehmend ältere Männer zum bewaffneten Kriegsdienst. So erhielt auch der alte Maurer Schröder vom Gutsplatz eine Einberufung. Mit seinem Fahrrad und einer Panzerfaust, an den Füßen mit Maurerpantinen, zog er nach einer kurzen Einweisung zum Einsatzort. Die schrecklichen Bombenangriffe auf Berlin trieben immer mehr Familien nach Lehnitz in ihre Sommerhäuser. Familien, die überhaupt keine Unterkunft mehr besaßen, kamen ebenfalls zu uns. Ihnen wies man Zimmer in bewohnten Häusern zu, was jedoch bald nicht mehr ausreichte. Am Ende der Moltkestraße (heute Breitscheidstraße), hinter dem Friedhof gelegen, errichtete man darum Behelfsheime in Gestalt von Holzbaracken.
Abb. 2. Schlesische Flüchtlinge im Frühjahr 1945. Kopie aus Sven Oehlsen: Vertriebenenlager in
Brandenburg. – Potsdam, 2006
Mit den letzten Januartagen zogen immer häufiger Flüchtlingstrecks, das hieß Pferdegespanne mit erschöpften Menschen und aufgetürmtem Hausrat beladen, aus dem Osten kommend auf der Summter Chaussee durch unseren Ort. Viele von ihnen flüchteten seit Wochen vor den Kampfhandlungen der nach Westen vorrückenden Front. Manche machten auf dem Gutsplatz mit einer Bitte um Wasser und Nahrung kurze Rast. Dann ging es weiter über die Lehnitzer Brücke durch Oranienburg in Richtung Norden oder Westen mit ungewissem Ziel. Wir blieben hier in einem Alltag voller Ängste und Sorgen zurück. Ängste um die an der Front befindlichen Angehörigen, denn die Anzeigenspalten mit den Namen der getöteten Soldaten wurden immer länger; Sorgen um das tägliche Überleben und die Zukunft nach einem Ende des Krieges. Über die unmenschliche Behandlung der Zwangsarbeiterinnen im Auerwerk II sprachen die Erwachsenen hinter vorgehaltener Hand. Wir Lehnitzer Kinder gingen weiter in die Oranienburger Schulen. Der Kohlenmangel zwang dazu, die Schüler der 2. Gemeindeschule (Bernauer Straße) mit in die 1. Gemeindeschule am Luisenplatz (Schlossplatz) einzuweisen. Dort gab es noch Kachelöfen. Dafür mussten wir Brennholz mitbringen, das von unseren Lehrern Max Rehberg und Otto Schwittau während des Unterrichts verheizt wurde. Tagsüber gab es nun auch öfter Vor- und Fliegeralarm. Bei Voralarm schickte man uns alle nach Hause. Weil die S-Bahn dann nicht mehr fuhr, liefen wir im Dauerlauf nach Lehnitz. Keiner wollte in den öffentlichen Bunker auf dem Schulhof des Gymnasiums am Bahnhof gehen, da wir dort den Reisenden behilflich sein sollten.
Der Vf. bedankt sich bei Frau Regine Spangenberg für die Bereitstellung der Dokumente
Abb. 3. Regine Spangenberg mit ihren Eltern Charlotte und Franz Schmidt (Mitte) 1938 vor dem Wohnhaus am Gutsplatz 8