Vor 100 Jahren – Gutsbezirk Lehnitz wird Landgemeinde

Von Bodo Becker

Der historische Verlauf kann sonderbare Zufälle hervorbringen. So auch für Lehnitz, denn das Jahr 2002 stellte für die Gemeinde nicht nur das 80. Jubiläum ihrer kommunalen Selbstverwaltung dar, sondern zugleich das letzte Jahr der Selbständigkeit. Ab dem 1. Januar 2003 existiert Lehnitz nun als Ortsteil von Oranienburg. Begehen wir 2022 also ein hundertjähriges Jubiläum, so blicken wir im nächsten Jahr auf 20 Jahre erfolgreiche Stadtteilgeschichte zurück. Nachfolgend steht der schwierige Beginn der demokratischen Selbstverwaltung im Mittelpunkt der Darstellung.

Es stand im „Briesetal-Boten“
Da staunten die wenigen Lehnitzer Zeitungsleser nicht schlecht, als sie am Sonnabend, dem 1. Juli 1922, aus ihrer Zeitung erfuhren, dass sie nicht mehr Bewohner eines Gutsbezirks waren, sondern nun als Gemeindeangehörige in einer Landgemeinde lebten. Bis dahin lag die Verwaltung von Lehnitz in den Händen des jeweiligen Eigentümers des Gutsbezirks bzw. seines Beauftragten. (Für die Zeit des Gutsbezirks im 19. Jahrhundert siehe: Der Gutsplatz – An der Wiege von Lehnitz).

Abb. 1. Mit einem dürren Satz wurden die Lehnitzer über die kommunalrechtliche Veränderung informiert. Repr. B. Becker

Gefahr der Eingemeindung
Doch schon drohte der jungen Gemeinde Gefahr vom größeren Nachbarn. Nur wenige Tage später, am 11. Juli, berichtete die Zeitung über eine Stadtverordnetenversammlung in Oranienburg. Unter der Überschrift „Zur Frage der Landbürgermeistereien“ wurden die Leser über einen Vorschlag informiert, nachdem Teile des Gutsbezirks Oranienburg-Forst und die junge Gemeinde Lehnitz eingemeindet werden sollten. Der Magistrat schloss sich dem Vorschlag mit Ausnahme von Lehnitz an – hier sah man zu viele kommunalpolitische Probleme. An die Lehnitzer gerichtet fuhr der Berichterstatter darum fort: „…kann es Lehnitz jetzt noch schwer fallen, sich die Rolle des Stiefkinds auszumachen, wenn es erst mal eingemeindet ist, nach dem man ihm schon jetzt amtlich attestiert hat: Du bringst uns ja keine wirtschaftlichen Vorteile!“

Erste demokratische Kommunalwahlen und schwieriger Anfang
Für die Wahl und die Bildung der Selbstverwaltungsorgane war also Eile geboten. Lehnitz verblieb beim Amtsbezirk Birkenwerder. Borgsdorf, Hohen Neuendorf (schied später als eigenes Amt aus) und andere Orte gehörten ebenfalls zum Amtsbezirk. Willi Kühn, der Amtsvorsteher von Birkenwerder, übernahm ab dem 24. Juli 1922 zunächst die Funktion eines kommissarischen Gemeindevorstehers.

Abb. 2. Ansichtskarte. Tagungsort der Gemeindervertreter. Alle Abb. Archiv B. Becker

Schon am 19. September wählten die Lehnitzer ihre ersten Gemeindevertreter und den Gemeindevorsteher. Als Angehöriger einer Familie, die bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Lehnitz ansässig war, zog Emil Götze in das Gemeindeparlament. Erwähnen muss man auch Ratsmaurermeister a.D. Karl Koeppen, dessen prächtige Villa (erbaut 1892) am Mühlenbecker Weg 1 steht. Er und zwei weitere Abgeordnete wurden zu Schöffen gewählt. Der Rittergutsbesitzer a.D. Richard Lentz eröffnete die lange Reihe Lehnitzer Bürgermeister. Seine Vereidigung und die seiner Schöffen fand am 5. Oktober durch den Amtsvorsteher in der Wohnung von Lentz statt, denn noch fehlte der Gemeindeverwaltung ein Büro. Versammlungen mussten daher in den Vereinszimmern der Lehnitzer Gaststätten veranstaltet werden. Die spärlichen Informationen über die Arbeit der Lehnitzer Gemeindeverwaltung in dieser Zeit waren geprägt von der sozialen Situation der Inflationszeit. Auch in dem bis zum Kriege von Hausbesitzern beherrschten Villenvorort hatte sich ein sozialer Wandel vollzogen, auf dem die Gemeinde reagieren musste. Hier einige Beispiele: Die Gemeindevertreter wählten Anfang April 1923 den ortsansässigen praktizierenden Arzt Dr. Katerbow für die medizinische Betreuung unbemittelter Kranke. Ebenfalls im April 1923 brannte in der Florastraße ein hölzernes Sommerhaus vollkommen nieder. Der Besitzer zog sich bei dem vergeblichen Versuch, das Haus zu löschen, schwere Verbrennungen zu. Die gerade erst im November des vorigen Jahres gegründete Freiwillige Feuerwehr kam nicht zum Einsatz. Die Gründe: Fehlende Löschgeräte und Alarmorganisation. Den Verantwortlichen in der Gemeinde und dem Grund- und Villenbesitzer-Verein (gegr. 1895) wurde der Missstand schlagartig klar. (Vgl. dazu: 95 Jahre im Dienste der Allgemeinheit: Die Freiwillige Feuerwehr Lehnitz. Teil 1. u. 2)

Abb. 3. Foto: Aufstellung vor den Kletterturm, vor 1933

Am 18. August 1923 rief eine amtliche Mitteilung im Briesetal-Boten die Abgeordneten zur öffentlichen Gemeindevertretersitzung in das Restaurant von Carl Müller. (Siehe Abb. 2. Heute Friedrich Wolf-Straße 54) Auf der Tagesordnung stand unter anderem das Gehalt für den Gemeindediener, der zugleich Nachtwächter und Vollzugsbeamter war. Ab dem 1. Oktober sollte der Gemeindediener von seiner Tagesarbeit entbunden werden, um sich auf die Nachtwache zu konzentrieren. Die Einbruchs- und Diebstahlsdelikte hatten stark zugenommen.

Abb. 4. Foto. Wehrhafter Gartenzaun zur Abschreckung vor mehr als 100 Jahren

Für die wachsende Anzahl von Wohnungsmietern schrieb die Gemeindeordnung die Einrichtung von Wohnungs- und Mieteinigungsämtern vor. Dem Gemeindevorsteher und den Gemeindevertretern war bewusst, dass sich zunehmende Einwohnerzahlen und die notwendige Verbesserung der Infrastruktur gegenseitig bedingen. Dazu gehörten in erster Linie der Straßenbau, die Stromversorgung und die Abfallentsorgung. Es mag wohl an den vielen Problemen gelegen haben, dass die Gemeindevorsteher nicht lange durchhielten. Schon am 31. Oktober 1923 übernahm der Schöffe Karl Koeppen das Amt. Nur wenige Wochen später, am 5. November, folgte ihn Willy Werner. Erst Richard Becker brachte mit seiner Wahl ab September 1924 Kontinuität in die Kommunalverwaltung. Die kompetente, vorausschauende Persönlichkeit Beckers prägte die nunmehr erfolgreiche Entwicklung der jungen Gemeinde bis 1933 wesentlich. (Zur Person und zum Wirken siehe die beiden Teile: Richard Becker – Bürgermeister in einer schwierigen Zeit).