25. März 1949 – Lehnitzer Gemeindevertreter-Sitzung: Blick in eine schwierige Zeit
Von Bodo Becker
Es ist Freitagabend. Lehnitzer Gemeindevertreter und interessierte Bürger treffen sich zur öffentlichen Sitzung im Gasthaus Schminder (Freiheitstraße, ab 1954 Friedrich-Wolf-Str. 14) Vier Jahre nach dem Ende des Krieges und wenige Monate vor der Gründung der beiden deutschen Staaten kommen die vier Gemeinderäte und zehn Gemeindevertreter zusammen, um kommunale Probleme zu diskutieren. Bürgermeister Horst Gaap, der im September 1942 durch sein mutiges Verhalten die Ermittlungen der Gestapo gegen die Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ in Lehnitz erschwerte, und sich so als Antifaschist ausgezeichnet hat, leitet die Veranstaltung. (Vgl. Beitrag vom 21.02.2022: Vorführdame und Widerständlerin – Ina Ender (Lautenschläger). Erinnerungsbericht: Lehnitz – ein Ort am Rande der antifaschistischen Widerstandsorganisation „Rote Kapelle“ )
Im Mittelpunkt steht der Bericht des Bürgermeisters. Er beginnt mit der Schilderung der finanziellen Lage der Gemeinde, die sich durch die überraschende Währungsreform vom 24. bis 28. Juni 1948 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) verschlechtert hat.
Ursache ist der Währungsverlust der bis dahin noch gültigen Reichsmark, so dass die Gemeinde 27.000 DM aus ihrem Haushalt abschreiben muss.
Angesichts dieser schwierigen Umstände appelliert der Bürgermeister an alle Steuerzahler, ihre Steuern pünktlich zu bezahlen. Auch könne man keine Steuer-Stundungen mehr gewähren. Um hier eine Besserung zu erreichen, habe man einen „Vollziehungsbeamten“ eingestellt, informiert Gaap die Bürger. Steuerpflichtig gegenüber der Gemeinde sind Haus- und Grundstücksbesitzer sowie selbständige Unternehmer. Zu jener Zeit gibt es im Ort sieben Gaststätten, sieben Gewerbetreibende, 16 Handwerksbetriebe und elf Handelseinrichtungen. Mit 41 steuerpflichtigen Unternehmen kleiner und mittlerer Größe steht Lehnitz bei einer Einwohnerzahl von 2028 (August 1950) eigentlich nicht schlecht da. Doch das Problem liegt woanders. Es besteht in der sozialen Zusammensetzung der Bevölkerung, die Gaap mit einer quantitativen Analyse der Lebensmittelkarten-Gruppen den Zuhörern vor Augen führt. Seit November 1945 existieren Lebensmittelkarten für rationierte, preisgestützte Nahrungsmittel. Die Kartengruppen unterscheiden sich nach der beruflicher Tätigkeit bzw. Einkommenssituation der Bezugsberechtigten. Danach gibt es in Lehnitz für die Gruppen 1 und 2 (Schwerst- bzw. Schwerarbeiter) 155 Bezieher, für die Gruppe 3 (Arbeiter) 381 Bezieher, für die Gruppe 4 (Angestellte, Rentner, Sozialunterstützte und Kinder) 969 Bezieher. Nahezu 50% der Lehnitzer gehört zur Gruppe 4 und damit zu der am schlechtesten versorgten Bevölkerungsgruppe in der SBZ. „Bei der Betrachtung dieser Zahlen ist es nicht verwunderlich, wenn Lehnitz immer hinten dran steht“ kommentiert Gaap zusammenfassend sein aufgezeigtes Zahlenwerk.
Abb. 1. Lebensmittelkarte, Juni 1958. Sammlung B. Becker
Wie groß die Versorgungsnot jener Jahre ist, zeigen die konkreten Mengen für einzelne Lebensmittel. Der Gruppe 3 stehen täglich 100 Gr. Brot, 50 Gr. Nährmittel, 200 Gr. Kartoffel, 150 Gr. Gemüse, wöchentlich 100 Gr. Fleisch und 20 Gr. Fett zu. Für die Gruppe 4 sind diese Zuteilungen (außer die Brotration) noch reduziert, Fleisch und Fett entfallen ganz. Obwohl in Lehnitz seit den 1870er Jahren keine Bauern mehr ansässig sind, war spätestens nach Kriegsende der Zeitpunkt gekommen, die mangelhafte Lebensmittelversorgung mit Produkten aus eigener Erzeugung zu ergänzen. Zur gegenseitigen Hilfe und staatlichen Unterstützung hatte sich darum am 1. Juli 1947 in der Gaststätte von Fritz Lehmann am Gutsplatz ein Siedler- und Kleingartenverein gegründet.
Die allgemeine Not fördert die Kriminalität, insbesondere die Eigentumsdelikte. Doch die Polizei vor Ort befindet sich personell und organisatorisch im Aufbau, so dass man auf die Mitwirkung der Bevölkerung angewiesen ist. Der Rat der Gemeinde reagierte darauf im Juli 1948 mit einem Ortsgesetz über die Verpflichtung für alle steuerpflichtigen männlichen Einwohner vom 17 bis 65 Jahre zum Wachschutzdienst. Die Nachtwachgebühr beträgt 3,00 DM. Aber auch hier gibt es offensichtlich säumige Zahlungspflichtige, denn der Bürgermeister droht nun mit Pfändungen.
Abb. 2. Ausweis der Ordnungspolizei Lehnitz, 24. Mai 1945. Kopie Sammlung B. Becker
Besondere Erwähnung findet die Arbeit des Wohnungsamtes, das sich gerade nicht schwerpunktmäßig mit der Bewirtschaftung des knappen Wohnraums befassen muss, sondern mit Enteignungen oder Rückgaben der unter Besatzungsbefehl 124 fallenden Grundstücke und Möbel. Dieser Befehl vom 30. Oktober 1945 stellt „herrenloses Gut“ und das Eigentum des Deutschen Reiches, von Nazi-Funktionären und Kriegsverbrechern unter Zwangsverwaltung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD). Mit dem SMAD-Befehl Nr. 64 vom 17. April 1948 wurde der Befehl 124 außer Kraft gesetzt und eine Auflistung der Enteignungen angeordnet. Anfang 1949 sieht sich die Gemeindeverwaltung nun vor die Aufgabe gestellt, enteignete Immobilien, Möbel, Leih- oder Mietverträge zu erfassen und auf Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Das betrifft vorwiegend Eigentum von geflüchteten NSDAP-Funktionsträgern und Bewohnern der ehemaligen Ritterkreuz-Siedlung, nunmehr Thälmann-Siedlung, (nach 1990 Waldsiedlung). Bereits am 16. Mai 1945 hatte der kommissarische Gemeinderat z.B. die verlassene Villa des NSDAP-Ortsgruppenleiters in Verwaltung genommen und sie mit dem Namen „Haus des Sozialismus“ versehen. (Heute befindet sich hier das Kulturhaus „Friedrich Wolf“) Da nach den Ausführungen des Bürgermeisters „in den Vorjahren nicht mit der genügenden Sorgfalt gearbeitet wurde“, muss nun mit erhöhtem Zeitaufwand nachgearbeitet werden.
Abb. 3. Zustand der Schule 1950er bis 1960er Jahre. Sammlung B. Becker
Immer wieder Anlass zu Diskussionen gibt die 1944/45 erbaute Schule. Zu den mangelhaften schulischen Bedingungen kommen gravierende Baumängel an der Dachkonstruktion, die unbedingt beseitigt werden müssen. Der Bürgermeister vermisst in diesem Zusammenhang „das Interesse aller Eltern an den Geschehnissen in der Schule.“ Die notwendige Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Lehrern, fehlendes Reinigungsmaterial und kahle, unfreundliche Klassenräume bewegt die Anwesenden während der anschließenden Aussprache. Zwei Bürger stellen daraufhin spontan Besen und ein Eimer in Aussicht!
Ein zwingendes Bauvorhaben ist die Wiedererrichtung der zerstörten Straßen- und Fußgängerbrücke über den Oder-Havel-Kanal. Noch immer gibt es nur den provisorischen Personenfährverkehr nach Oranienburg, den die Gemeindeverwaltung 1945 eingerichtet hat. Für den Fahrzeugverkehr nach Lehnitz existiert nur eine ausgebaute Straße, die Summter Chaussee. Alle anderen Zugangsstraßen befinden sich im Zustand von unbefestigten Forststraßen. Gaap informiert über die Verhandlungen mit Oranienburg bezüglich des Baus einer Behelfsbrücke aus Holz, die ca. 175.000 DM kosten würde. Wir wissen heute – alle Bemühungen scheiterten. Erst ab 1957 verbindet wieder eine stählerne Brücke die Kreisstadt mit Lehnitz. (Vgl. Beiträge T. 1. 2.: Zwölf Jahre warten auf eine Brücke: Die „Lehnitzer-Brücke“ über den Oder-Havel-Kanal. 30.09.2020 u. 31.10.2020)
Abb. 4. Personen- und Fahrzeugfähre (im Vordergrund) und die Lehnitzer Brücke kurz vor der Fertigstellung 1957. Sammlung B. Becker
Abb. 5. Die Personenfähre im Einsatz. Sammlung B. Becker
Den Abschluss der Gemeindevertretersitzung bildet die notwendige Neuwahl eines Bürgermeisters. Gaap ist als Lehrer an die Kreisparteischule der SED in Wandlitz berufen worden. Vielleicht wählen die Gemeindevertreter auch darum den Bauunternehmer Max Schulze, denn der ist seit dem demokratischen Neubeginn nun bereits der 7. Bürgermeister. Gegen 22.30 Uhr schließt die Versammlung – spät, denn für die meisten ist der nachfolgende Sonnabend zumindest ein halber Arbeitstag.